Freie Zeit: Ach, wenn alle das täten!
Sommer, das ist medial immer auch der Moment für steile Thesen. Zum Beispiel: dass niemand mehr arbeiten will und Tourismus ein Problem ist. Zeit für eine Abkühlung.
Es ist der 1. August, im Park des Stockalperpalasts in Brig trifft das Schweizer Radio und Fernsehen Bundespräsidentin Viola Amherd. Die Hitze drückt, das Gespräch liegt in seinen letzten Zügen, da fragt der Moderator – es geht um Amherds Präsidialjahr –, was sie am meisten geärgert habe, und die Magistratin sagt: «Die Erholungszeit ist schon sehr beschränkt.»
Was für ein Steilpass, denkt man sich, so viele Fragen könnten an diese Aussage anschliessen, man könnte auch sagen, Feiertag ist Feierabend, das Interview beenden und zum nächsten Glacestand schlendern. Aber in diesem Moment krachen Flugzeuge durch die Luft, der Moderator zeigt gen Himmel und sagt: «Ihre Jets sind unterwegs», und die Verteidigungsministerin entgegnet fast entschuldigend: «Die schaffend.»
Auf die Frage des Moderators, was sie ab dem 1. Januar 2025 mache, sagt sie: «Weiterschaffen.» Und auf das Nachhaken, ob sie zurücktrete, entgegnet Amherd: «Das Präsidialjahr ist stark belastet, ich hatte noch gar keine Zeit, über einen Rücktritt nachzudenken.» Die Bundespräsidentin arbeitet so viel, dass sie nicht darüber nachdenken kann, nicht zu arbeiten.
Vielleicht sagt diese Szene mehr über die Schweiz aus als jede 1.-August-Rede: Man kann es nicht sagen, aber man will doch eigentlich, selbst die Regierungschefin, wenn sie ehrlich ist, einfach nicht mehr so viel arbeiten. Erst recht nicht im Sommer.
Arbeitsbereitschaft
Klaus Wellershoff hat das schon gewittert. Wellershoff ist CEO und Verwaltungsratspräsident seines Beratungsunternehmens, Exchefökonom der UBS, Dozent in Nationalökonomie. Wellershoff ist geboren in Wilhelmshaven, ein Name, der nach Möwen und Uferpromenaden klingt, und Wellershoff sagt mitten im Hochsommer in einem Interview in der «Neuen Zürcher Zeitung», wir kämen in eine Phase, in der «die Trend-Wachstumsraten der Volkswirtschaften» tiefer sein würden. «Trend-Wachstumsraten», ein Wort wie ein Spannteppich: widerstandsfähig, lärmdämpfend, hässlich.
Wellershoff warnt: Die Produktivität wachse langsamer, es gebe «weniger arbeitsfähige Menschen in der Bevölkerung». Hinzu komme – es geht wahrscheinlich um Staatsschulden beziehungsweise den Staatshaushalt, man hat den Faden etwas verloren, was nicht an der Hitze liegt –, hinzu komme also, sagt Wellershoff, der «momentan quantitativ grösste Faktor»: «die abnehmende Arbeitsbereitschaft der Menschen». Und just da schmilzt das Hirn doch ein bisschen. Was sagt er?
Es gäbe auch hier viele Möglichkeiten, daran anzuschliessen: Wie meinen Sie das genau, Herr Wellershoff, mit diesen sogenannt arbeitsfähigen Menschen, die weniger werden? Aus welchem Hängeregister haben Sie das Wort «Arbeitsbereitschaft» rausgefischt, und wie ist es eigentlich so, an der Nordsee aufzuwachsen?
Aber die NZZ stellt diese Fragen alle nicht, sie erwähnt auch noch den Trend zur Teilzeitarbeit und krächzt: «Können sich die Menschen diese Einstellung leisten?»
Die heraufbeschworene Bedrohungslage bleibt nebulös, aber die Frage weckt Erinnerungen an die Aberdutzende Warnungen von Wirtschaftsverbänden und Ökonom:innen vor solchen angeblichen «Einstellungen»: Mindestlöhne? Wer soll das bezahlen! Unterstützungsleistungen während der Pandemie? Diese Anspruchshaltung steht nur Banken zu. Eine 13. AHV-Rente? Der Untergang des Abendlands – trotz ein paar Milliarden Franken mehr in der Kasse (vgl. «Der Prognose-Gau»). Mässigung statt Müssiggang lautet das Motto, man kann nicht den Fünfer und das Weggli haben, und so weiter.
Freizeitgesellschaft
Eins muss man Wellershoff lassen: Der Verdacht liegt ja tatsächlich nahe, die Schweiz sei keine Arbeits-, sondern eine Freizeitgesellschaft. Freizeit ist laut dem Bundesamt für Statistik immerhin der wichtigste «Mobilitätszweck», die SBB haben unlängst beschlossen, den Freizeitverkehr noch stärker auszubauen. Umfragen zeigen seit Jahren, dass Freizeit den Menschen wichtiger ist als Arbeit. Und wo man hinblickt diesen Sommer: freizeitfreudige Menschen. Sie trinken schon vormittags Weisswein in der Rhätischen Bahn, schlurfen in kissenhaften Kautschukschlappen durch die Städte, verbringen lange Abende auf Gummibooten, mediterranisieren den öffentlichen Raum, als gäbe es kein Morgen, feiern Grillfeste, besteigen Berge, bebaden Seen. Frei verfügbare Zeit, das ist die Befreiung von der disziplinierenden Arbeit – ein grosser Wert für die Wiedergewinnung der Menschlichkeit aus der Entfremdung, so in etwa sagte es Karl Marx.
Deshalb kann man sich auch fragen, ob David Roth seinen Marx gelesen hat, zettelte er doch diesen Sommer eine Debatte an, in der es – denkt man den Begriff mal grosszügig – auch um Freizeit geht. Der SP-Nationalrat will Tourist:innen das Ziehen von Rollkoffern verbieten in Luzern, wo das Wort Standortmarketing den Kindern mit der Ovomaltine eingeflösst wird (Roth will auch noch anderes, aber leider ist nur das hängen geblieben). Ebenfalls in diesem Sommer empört man sich in Lungern über herumspazierende und fotografierende koreanische Tourist:innen in Badis und privaten Gärten. Schön ist es eben nur, wenn die anderen draussen bleiben? Zur Freizeitgesellschaft Schweiz gehört nun mal auch der Fremdenverkehr dazu, oder um es mit Rosa Luxemburg zu sagen: Freizeit ist immer die Freizeit der Andersdenkenden.
Zugegeben, die Freizeitgesellschaft ist auch ein Ärgernis, wenn nicht ein Problem: zu viel Freizeitstress, eine zu intensiv benutzte Natur, zu viele Airbnbs, zu viele Emissionen, zu viel Internet, zu viele Outdoorgeschäfte. Die Erholung ist längst der Eventisierung zum Opfer gefallen; Freizeit ist auch nur eine Aneinanderreihung von Konsumentscheidungen, ähnlich disziplinierend wie Arbeit, eine permanente Selbstversicherung der Wohlstandsgesellschaft und ohnehin eine Klassenfrage. Deshalb ist Freizeit vielleicht gar nicht das Gegenstück zur Arbeit, sondern dieselbe Seite der Medaille: nur die regenerative Phase, in der man sich erholt, um wieder arbeiten zu können, oder die Zeit, in der man trotzdem arbeitet, weil die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit längst verschwimmen.
Zugegeben auch, dass die Arbeitsgesellschaft schon mehrfach totgesagt wurde und doch nie starb und dass die Warnung, es werde zu wenig geleistet, einfach ein ideologischer Evergreen der Liberalen ist. Zwar ist das durchschnittliche Arbeitspensum gesunken, aber die Zahlen des Bundes zeigen, dass insgesamt mehr Lohnarbeit verrichtet wird als vor dreissig Jahren, weil viel mehr Frauen erwerbstätig sind. Teilzeitpensen sind zwar auf dem Vormarsch, aber nicht aus Arbeitsunlust, sondern vor allem, weil heute mehr und länger studiert und daneben gearbeitet wird.
Faulheit
Freizeit ist deshalb aber auch gar nicht das, was CEOs und Ökonom:innen fürchten und die Bundespräsidentin sich heimlich wünscht: Der eigentliche Gegenbegriff zur Arbeit ist das Nichtstun, der Müssiggang, das Faulsein, die Weigerung, zu arbeiten, aber auch jene, seine freie Zeit zu nutzen. Das Nichtstun hat den schlechten Ruf, wertlos, dysfunktional, unpolitisch zu sein. Dabei ist es in seiner Regel-, Zweck- und Ziellosigkeit, in seiner Abweichung von der Norm subversiv und gerade deshalb nicht nichts. Nichtstun ist passiver Widerstand, eine Provokation.
Und manchmal, besonders im Sommer, scheint sich tatsächlich etwas zu verschieben. Wenn man viel mehr draussen ist als drinnen, die freie Zeit entprivatisiert ist, die Regeln ein bisschen aus den Angeln gehoben sind; wenn die Abende endlos und die Nächte warm sind, die Zeit verschwimmt, die Gedanken ziellos umherschweifen, das Hirn matt von der Hitze, dann liegt auch etwas Aufrührerisches in der flirrenden Luft: die Lust an der Faulheit, am Nichtstun, auch mit anderen. Denn Sommer, das ist ja auch die Sehnsucht nach Gemeinschaft, die kollektive Aneignung des öffentlichen Raums für unordentliche Tätigkeiten: rumlungern, rumliegen, rumschlurfen.
Der österreichische Chansonnier Georg Kreisler sang einst über das Nichtarbeiten und das Nichtstun: «Sie werden sagen: Wenn alle das täten, dann läge die Menschheit ja brach! Ja – wenn alle das täten, dann dächte man über das Brachliegen etwas mehr nach.»