Filmfestival Locarno: Biografien: Herkunft bleibt kleben

Nr. 33 –

Die eigene Familie im Fokus: In der Semaine de la critique in Locarno befragt Simon Baumann seinen Status als Erbe – und die Iranerin Leila Amini dokumentiert die Emanzipation ihrer Schwester.

Filmstill aus «A Sisters’ Tale»: Leila Amini folgt ihrer Schwester Nasreen mit der Kamera
«A Sisters’ Tale»: Leila Amini folgt ihrer Schwester  Nasreen mit der Kamera. Still: Mira Film, Docmaniacs

«Das hast du gut gemacht», sagt der Vater nach der Premiere in Locarno, und der Sohn schiebt gleich hinterher, dass ihm dieses väterliche Lob für seinen Film jetzt nicht ganz geheuer sei: Heisst das, dass er vielleicht zu wenig kritisch war mit den Eltern?

Der Sohn, das ist der Regisseur Simon Baumann («Zum Beispiel Suberg»), der in seinem neuen Dokumentarfilm abermals bei seiner unmittelbaren Herkunft anknüpft. Die Eltern, das sind Stephanie und Ruedi Baumann, Schwergewichte der Schweizer Politik, bis sie sich vor über zwanzig Jahren auf einen abgelegenen Bauernhof in Frankreich zurückzogen. Ihren Hof in Suberg hat damals der jüngere Sohn Kilian übernommen, der das Erbe der Eltern längst auch auf politischer Ebene weiterführt. Als bei diesen die Frage auftaucht, wem und wie sie dereinst ihren Hof in Frankreich vermachen sollten, findet der ältere Sohn zum Thema für seinen Film: «Wir Erben».

Um gleich mal falsche Erwartungen aus dem Weg zu räumen: «Wir Erben» ist nicht der Film zur kommenden Erbschaftssteuer-Initiative der Juso. Und auch wenn das Private bekanntlich politisch ist, nicht nur in einer Familie wie jener der Baumanns, ist das vordergründig nicht mal ein besonders politischer Film. Dafür ist er, auf sehr unprätentiöse Art, schonungslos aufrichtig, was den Umgang mit Baumanns eigenen Privilegien angeht – und mit dem schlechten Gewissen, das damit einhergeht. Wenn in diesem Film vom Erben die Rede ist, dann meist als Last und als Bürde, nur selten als Treiber sozialer Ungleichheit und nur einmal als feudales Element (sehr lustig, wie der Vater das aktiv überhört).

Die Welt gehört denen, die erben

Doch bei aller Selbstironie, bei aller Situationskomik im familiären Umfeld: Baumanns Blick für die Widersprüche im Eigenen bleibt stets gestochen scharf. Etwa wenn er anhand von alten Familienfotos die unterschiedliche Herkunft seiner Eltern herausarbeitet. Die bäuerliche Verwandtschaft des Vaters: ärmlich gekleidet, aber begütert. Die Verwandtschaft der Mutter dagegen posiert im Sonntagsgewand, um die Armut zu überspielen. Kleider machen Leute, das heisst eben auch: Sie verschleiern Besitzverhältnisse. Und obwohl er, der Bauernsohn, sich nie für Pflanzen interessiert hat, findet Baumann ausgerechnet in der Pflanzenwelt eine schöne Metapher für sein Thema. Herkunft sei wie Klebkraut, sagt er einmal im Film: Sie haftet an uns, ob wir wollen oder nicht.

«Wir Erben» ist die Selbstbefragung von einem, der von den Eltern neben einem Sinn für Gerechtigkeit auch Eigentum geerbt hat und nun vor der Frage steht: Wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn er erbt und andere nicht? «Die Welt gehört denen, die erben», hält der Regisseur gegen Ende unmissverständlich fest. Und Locarno ist natürlich genau der richtige Ort für diesen Film, seit die Roche-Erbin Maja Hoffmann vor einem Jahr den langjährigen Patron Marco Solari als Festivalpräsidentin beerbt hat. Die WOZ hätte die Milliardenerbin deshalb sehr gerne zusammen mit Regisseur Simon Baumann zu einem Gespräch übers Erben getroffen. Frau Hoffmann liess ausrichten, dass sie dafür leider keine Zeit habe. Dass sie sich namentlich zur Juso-Initiative nicht äussern wolle, hatte man zuvor schon im «SonntagsBlick» lesen können.

Gesang in der Nacht

Zum Auftakt der Semaine de la critique war neben «Wir Erben» auch die wohl bewegendste Weltpremiere in Locarno zu erleben. Sie war so nicht geplant, ergab sich nur, weil eine Zuschauerin einen Wunsch äusserte, der wohl vielen im Saal nach dem Dokfilm «A Sisters’ Tale» durch den Kopf ging. Die iranische Regisseurin Leila Amini begleitet darin über sieben Jahre hinweg ihre ältere Schwester Nasreen auf dem langen Weg in ein halbwegs selbstbestimmtes Leben. Nasreen wäre gerne Sängerin geworden, aber in ihrer Ehe sind solche Träume nicht vorgesehen, und als Frau darf sie im Iran sowieso nicht öffentlich singen, weil das seit der Islamischen Revolution 1979 verboten ist. In der ersten Szene ist Nasreen unterwegs ins Tattoostudio, um sich ein Motiv der Hoffnung stechen zu lassen – aber da sind wir erst im Jahr 2016.

Der Ehemann ist kein böser, nur ist er meist nicht da und zeigt keinerlei Interesse an seiner Frau. Nasreen legt sich unters Messer, um nach zwei Schwangerschaften den Bauch zu straffen. Hilft auch nichts. Sie nimmt heimlich Gesangsstunden, aber ein anderer Schritt nimmt bald mehr Raum ein, im Leben wie auch im Film: Soll sie sich scheiden lassen? Wird dann nicht alles noch viel schwieriger für sie? Manchmal steht sie allein am Fenster zum Hof und singt leise in die Nacht hinaus. Und am Ende sitzt Nasreen mit ihrem Sohn im Auto und spielt ihm einen Song vor, den sie im Studio aufgenommen hat.

Die Schwestern Amini haben es in dreissigstündiger Anreise aus Teheran nach Locarno geschafft. Und nach der sowieso schon bewegenden Premiere des Films kommt eben noch dieser Wunsch aus dem Publikum: Ob Nasreen nicht etwas vorsingen könne. In einem so aufgeladenen Moment grenzt das an Nötigung, aber doch, sie konnte. Und so tat Nasreen Amini erstmals in ihrem Leben, was sie in ihrer Heimat nicht darf: vor Publikum singen.

«A Sisters’ Tale» kommt voraussichtlich im Dezember 2024 ins Kino, «Wir Erben» folgt Anfang 2025.