Ungeklärte Finanzierung: Die Bürgerlichen bremsen sich selbst aus
Dem Bundeshaushalt drohen Milliardendefizite, auch wegen der Aufrüstung. Weil den rechten Parteien die Schuldenbremse heilig ist, sind sie plötzlich zu neuen Steuern bereit.
Fast konnte man den Eindruck gewinnen, die Schuldenbremse sei die eigentliche Staatsräson der Schweiz, der höchste Daseinszweck der Eidgenossenschaft. Zumindest wenn man den männlichen Votanten Glauben schenken wollte, als der Ständerat am 3. Juni über einen Spezialfonds für die Aufrüstung der Schweizer Armee und die Wiederaufbauhilfe an die kriegsversehrte Ukraine beriet. Frauen aus der Mitte-Partei und der SP hatten den Fonds über fünfzehn Milliarden Franken initiiert – und wollten damit eine Ausnahme von der Schuldenbremse beschliessen. Die eiserne Regel besagt, dass sich in einem Konjunkturzyklus Einnahmen und Ausgaben im Gleichgewicht befinden müssen.
«Diese Motion widerspricht Verfassung und Gesetz», warnte der Urner Ständerat Josef Dittli (FDP). «Es geht hier um die Aushebelung der Schuldenbremse.» Von einem «gefährlichen Präzedenzfall» sprach sein Thurgauer Kollege Jakob Stark (SVP): «Es ist von grösster Bedeutung, mit der Umsetzung der Schuldenbremse sorgfältig umzugehen.» Und als stünde die Schweiz selbst im Krieg, meinte Benjamin Mühlemann (FDP), mit der Schuldenbremse könne man zwar keine einzige Rakete abfangen, «aber einen Krieg gewinnt man noch viel weniger mit buchhalterischen Tricks».
Mit 28 zu 15 Stimmen lehnte der Ständerat die Motion ab. Und freute sich – zumindest aufseiten der Männer – bereits auf das Seminar der Finanzkommissionen im Sommer. Das diesjährige Thema: die Schuldenbremse.
Sparen reicht nicht
Unbestritten steht die reiche Schweiz vor einigen Herausforderungen. Da ist etwa ein prognostiziertes strukturelles Haushaltsdefizit von vier Milliarden Franken jährlich. Da ist der Blankoscheck für die Schweizer Armee, die gemäss der rechten Mehrheitsmeinung im Parlament bis 2030 ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgeben soll. Die konzeptlose Aufrüstung wird jährlich mehr als zwei Milliarden Franken kosten – falls sie nicht noch in einer Abstimmung gestoppt wird (vgl. «Das Bundeshaus im Schützengraben»). Und da ist der von den Stimmberechtigten beschlossene Ausbau der AHV; die 13. Rente dürfte die Sozialversicherung vier bis fünf Milliarden Franken pro Jahr kosten.
Anfänglich glaubten die Bürgerlichen, dass sie den Mehrausgaben mit blossen Sparprogrammen begegnen könnten. Im März setzte Finanzministerin Karin Keller-Sutter, selbsterklärte Sparfüchsin, eine fünfköpfige Expert:innengruppe zur «Bereinigung des Bundeshaushalts» ein. Angeführt von Serge Gaillard, dem früheren Direktor der Finanzverwaltung, soll die Reinigungstruppe eine umfassende Prüfung aller Aufgaben und Subventionen des Bundes vornehmen. Lineare Kürzungen müssen zu einem – Obacht, da ist das Wort wieder – «schuldenbremsenkonformen Haushalt» führen. Die Vorschläge werden im Spätsommer erwartet.
Wie besessen vom Sparwillen die Bürgerlichen sind, zeigte sich auch nach der Abstimmung über die 13. AHV-Rente im März. Da forderte FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt allen Ernstes, die zusätzliche Rente sei über eine Erhöhung des Rentenalters zu finanzieren – obwohl er gleichentags die eigene Initiative mit einer entsprechenden Forderung hochkant verloren hatte. Auf einen beschlossenen Leistungsausbau sollte also zur Disziplinierung der Bevölkerung subito eine Leistungskürzung folgen. Selten wirkte ein:e Politiker:in von einem Abstimmungsresultat so überfordert wie Silberschmidt.
Doch langsam kommt finanzpolitisch Bewegung ins Bundeshaus. Am Ende der Sommersession reichte Mitte-Ständerat Beni Würth, der zuvor ebenfalls noch heftig gegen die Aushebelung der Schuldenbremse gekämpft hatte, eine Motion für eine Steuererhöhung ein: Die Mehrwertsteuer soll – befristet auf fünf Jahre – um einen Prozentpunkt erhöht werden, um damit die 13. AHV-Rente sowie die Armeeaufrüstung zumindest zu einem grösseren Teil zu finanzieren. «Ich habe den Vorstoss in der Session entwickelt. Es ist völlig unrealistisch, diese Positionen nur ausgabenseitig zu lösen. Es braucht dafür auch Mehreinnahmen», erklärt er den Grund für seine Motion im Gespräch mit der WOZ. Die Befristung auf fünf Jahre hat Würth bestimmt, weil dann bei der AHV wie auch bei der Armee wieder eine Gesamtschau nötig sei. Sein Vorstoss ist relativ breit abgestützt: Sowohl von drei Mitgliedern der FDP wie auch vom rechten Rand der SP erhält er Support.
«Ein Tabubruch»
SP-Kopräsident Cédric Wermuth, seit dieser Legislatur wieder Mitglied der nationalrätlichen Finanzkommission, kann mit der Motion inhaltlich jedoch nichts anfangen. «Das Ganze wirkt eher wie ein billiger Trick, um die 13. AHV-Rente bloss provisorisch zu finanzieren und dann in fünf Jahren doch wieder ein höheres Rentenalter fordern zu können», sagt er. Trotzdem findet er Würths Vorstoss bemerkenswert: «Dass Bürgerliche plötzlich Mehreinnahmen fordern, stellt einen ideologischen Sprung dar.» Ähnlich sieht es der Chefökonom des Gewerkschaftsbunds (SGB), Daniel Lampart: «Die Forderung nach höheren Steuern ist ein Tabubruch.» Wobei auch für Lampart klar ist, dass der AHV-Ausbau über das bewährte Modell mit höheren Lohnprozenten finanziert werden muss. So lautet auch einer der Vorschläge, der vom Bundesrat in die Vernehmlassung geschickt wurde.
Mit einem erkennbaren Zugeständnis an Finanzministerin Keller-Sutter allerdings: Der Bundesrat will keine Beteiligung des Bundes an der 13. AHV-Rente und entsprechend den Bundesbeitrag an die AHV senken. Auch Beni Würth übernimmt diese Forderung. Wie eng hat er sich mit Keller-Sutter abgesprochen? Vor ihrer Wahl in den Bundesrat vertrat Keller-Sutter den Kanton St. Gallen im Ständerat, Würth folgte auf sie. Noch heute sind die Positionen der beiden auffällig oft deckungsgleich, etwa bei der Ablehnung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission zum CS-Debakel. «Selbstverständlich erarbeite ich meine Vorstösse selbstständig», betont Würth. «Ich habe Keller-Sutter aber natürlich informiert, dass ich mit ihren Leuten in der Finanzverwaltung die Zahlen auf ihre Richtigkeit überprüfe.»
Wie eng auch immer die Abstimmung zwischen den beiden war: Auch die Bundesrätin hat offenbar bemerkt, dass sie nicht ohne Mehreinnahmen auskommt. Zumindest stellt sie sich nicht mehr aktiv gegen eine solche Forderung.
Rekordtiefe Schuldenquote
Für SP-Kopräsident Wermuth ist klar: Mit ihrem Pochen auf die Schuldenbremse haben sich SVP, FDP und die Mitte-Partei selbst ausgebremst. «Angesichts der rekordtiefen Schuldenquote der Schweiz ist die ganze Sparhysterie völlig lächerlich: Jeder vernünftige Staat würde die beschlossenen zusätzlichen Ausgaben mit höheren Schulden finanzieren», so Wermuth. Weil sie sich diesen Weg aus ideologischen Gründen verstellten, bleibe den Bürgerlichen nun nichts anderes übrig, als für höhere Steuern zu plädieren. «Noch wirken sie orientierungslos, wechseln ihre Vorschläge alle paar Tage.»
Der SP-Kopräsident sieht selbst verschiedene Möglichkeiten, dass sich die politischen Lager annähern und die Finanzen ins Lot kommen: So könnten einige der zahlreichen Steuererleichterungen auf Kapital der letzten Jahre rückgängig gemacht werden. Auch die Steuervergünstigungen für natürliche Personen, von denen wie etwa bei der dritten Säule meist die Gutverdienenden profitieren, stellt Wermuth infrage.
Schliesslich kann er sich eine Reform der Schuldenbremse vorstellen, damit sie weniger starr angewendet werden muss. Mutmasslich ist es der Vorschlag mit der geringsten Chance.