Frankreich: «Diese Gespräche sind pseudo­demokratisch»

Nr. 35 –

Die Verantwortung für die politische Krise trage allein Emmanuel Macron, sagt der Soziologe und Attac-Generalsekretär Vincent Gay. Die extreme Rechte werde von dieser profitieren.

WOZ: Vincent Gay, das linke Wahlbündnis Nouveau Front populaire (NFP) ging aus den Wahlen im Juli als stärkste Kraft hervor, die Erleichterung war gross. Nun herrscht Katerstimmung. Was ist schiefgelaufen?

Vincent Gay: Wir haben einen Präsidenten, der die Kompetenz hat, irgendjemanden zu ernennen. Normalerweise beruft er die Kandidatin der parlamentarischen Mehrheit zur Premierministerin. Das ist aktuell Lucie Castets. Aber Macron weigert sich bislang, dies zu tun.

Der NFP hat auch nur eine relative Mehrheit …

Und eine, die das gesamte übrige politische Spektrum gegen sich hat. Trotzdem: Der NFP ist die stärkste Kraft im Parlament, und es ist deshalb seine Sache, ein:e Kandidat:in vorzuschlagen.

Dass es gelungen ist, mit Lucie Castets jemanden zu finden, der keiner Partei innerhalb des linken Wahlbündnisses angehört, spricht für den Respekt vor dem Gleichgewicht zwischen den Parteien innerhalb des NFP. Das erscheint mir gesund. Und das war in der Geschichte von Frankreichs Linker nicht immer der Fall.

Portraitfoto von Vincent Gay
Vincent Gay

Was spricht denn für Lucie Castets als Premierministerin?

Sie ist eine hohe Beamtin, arbeitet für die Pariser Stadtverwaltung, ist also mit Budgetfragen vertraut. Andererseits ist sie aber nicht einfach eine Technokratin. Sie war etwa Sprecherin eines Kollektivs zur Verteidigung des öffentlichen Dienstes. Sowohl politisch, insofern als sie klare Wertvorstellungen hat, als auch aufgrund ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten ist sie in der Lage, das Amt auszuführen.

Derzeit führt Emmanuel Macron Gespräche mit den Parteien. Am Montagabend hat er angekündigt, keine Regierung unter Führung des NFP ernennen zu wollen. Die Konsultationen sollen in eine neue Runde gehen. Was halten Sie davon?

Wir wissen nicht, wozu das eigentlich gut sein soll. Die politische Situation wird nach Abschluss der Konsultationen genau die gleiche sein wie davor. Es gibt die Linke, ein Zentrum, die Rechte und die extreme Rechte. Letztere beansprucht zwar nicht die Macht, will aber wenigstens dafür sorgen, dass die Linke sie auch nicht erhält. Ich bin nicht in die Geheimnisse der Götter des Élysée eingeweiht, aber meiner Meinung nach sind diese Konsultationen nutzlos, eine Art pseudodemokratischer Firnis: Die Parteien werden angehört, letztlich liegt aber sowieso alles in den Händen Macrons.

Hätte eine linke Regierung ohne absolute Mehrheit im Parlament und ohne den Präsidenten auf ihrer Seite denn überhaupt Gestaltungsmöglichkeiten?

Das ist eine der grossen Fragen. Es gibt viele linke Kamerad:innen, die mittlerweile offen infrage stellen, ob man sich das antun soll. Aber mit einer linken Regierung müssten diejenigen, die die NFP-Reformen blockieren, der Bevölkerung immerhin erklären, wieso sie das tun.

Es gibt Stimmen, die Macron vorwerfen, eine Art Staatsstreich zu verüben. Was halten Sie davon?

Mit dem Begriff des Coup d’état sollte man vorsichtig umgehen. Mich stört er etwas, angesichts der historischen Erfahrungen mit militärischen Staatsstreichen, auch wenn die jüngsten Ereignisse François Mitterrands Analyse der Fünften Republik bestätigen. Er sprach aufgrund der starken Stellung des Staatspräsidenten von einem politischen System des permanenten Staatsstreichs.

Bevor die jetzt laufenden Konsultationen begannen, hatten Vertreter:innen der linken Protestpartei La France insoumise (LFI) öffentlich das Parlament dazu aufgerufen, Macron abzusetzen.

Meiner Meinung nach ist das, wie soll ich sagen, sehr nebensächlich. Und ich denke, dass es ein Fehler auf zwei Ebenen war. Ich bin der Meinung, dass es nur sinnvoll ist, Drohungen auszusprechen, wenn man sie auch umsetzen kann. Dass Macron tatsächlich abgesetzt werden könnte, ist aber unwahrscheinlich. Und zweitens halte ich es für notwendig, dass der NFP im Moment kollektiv agiert. Die Forderung der LFI-Mitglieder war dagegen nicht mit den anderen Parteien abgesprochen.

Wie positioniert sich die globalisierungskritische Bewegung Attac in diesen innerlinken Debatten? Sie haben ja, eher überraschend, die Kampagne des NFP im Wahlkampf unterstützt.

Die Situation nach der Auflösung des Parlaments durch Macron war aussergewöhnlich. Es war das erste Mal in der Geschichte von Attac, dass wir uns in der Unterstützung einer politischen Kampagne, einer Wahlkampagne, engagiert haben. Mit der Dynamik, die rund um den NFP entstanden ist, konnten wir uns identifizieren, so wie auch mit Teilen seines Programms. Auch wenn man sagen muss: Es ist weniger radikal als das Programm von LFI bei den Wahlen 2022, das wiederum weniger radikal war als das Programm von François Mitterrand 1981.

Sie sind Soziologe und forschen unter anderem zur Geschichte von Arbeitskämpfen und sozialen Bewegungen. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Dynamik, die sich in den letzten Monaten in der französischen Linken entfaltet hat?

Wie sich soziale Bewegungen zur institutionellen Politik verhalten, veränderte sich im Verlauf der Geschichte immer wieder. Mal waren sie unabhängiger, mal weniger. Und die institutionelle Politik gewann immer dann die Überhand, wenn die Linke die Regierung stellte. Als Mitterrand die Macht übernahm, hatte das für die Bewegungen durchaus auch problematische Folgen, auch wenn sie seine Wahl möglich gemacht hatten. Der links regierte Staat sog ihnen Schlüsselfiguren ab und schwächte sie damit.

Was bedeutet das für die aktuelle Situation?

Die Regierung von François Hollande von 2012 bis 2017 beendete die Verbindungen zwischen Bewegung und der Regierung, die von der linken Bevölkerung gewählt worden war. Hollande lieferte den Beweis, dass auch eine sogenannt linke Regierung Politik betreiben kann, die den Arbeiter:innen und der Bevölkerung schadet. Heute spürt man in den Bewegungen aber wieder den Willen, sich nicht mehr darauf zu beschränken, gänzlich unabhängig von der Parteipolitik zu agieren, und sich stattdessen wieder vermehrt auch mit Regierungsfragen zu beschäftigen: sie zu kritisieren, aber gegebenenfalls auch zu unterstützen; die grossen Machtfragen zu stellen.

Wird die Rechte von den Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung profitieren können?

Ja, davon gehe ich aus. Die extreme Rechte ist enttäuscht über das Wahlergebnis, aber sie bereitet sich bereits auf die nächsten Wahlen vor. Die derzeitige Instabilität spielt ihr in die Hände. Sie inszeniert sich ja gern als Zufluchtsort angesichts herrschender Unordnung; sie wird weiter in die Offensive gehen. Wir neigen dazu, diesen wichtigen Aspekt des letzten Wahlergebnisses zu ignorieren: nämlich dass die extreme Rechte als fester Bestandteil der politischen Landschaft Frankreichs bestätigt wurde. Andererseits müssen wir auch wahrnehmen, was in der linken Zivilgesellschaft passiert. Die Mobilisierung geht weiter. Man sollte sich nicht nur darauf konzentrieren, was auf der Regierungsebene passiert.

Vincent Gay (48) ist Generalsekretär von Attac. Die linke, globalisierungskritische Organisation zählt rund 90 000 Mitglieder und ist in fünfzig Ländern aktiv. Gay ist Soziologe und lehrt an der Universität Paris-Cité. Er forscht zur Geschichte der sozialen Bewegungen und des Arbeitskampfs.