Durch den Monat mit Hanny Weissmüller (Teil 1): Lieben Sie Züge, oder sind Sie einfach gerne unterwegs?
Hanny Weissmüller wurde die Begeisterung für Züge in die Wiege gelegt. Die Ausbildung zur Lokführerin machte sie aber erst im Alter von vierzig Jahren.
WOZ: Frau Weissmüller, sind Sie heute schon Zug gefahren?
Hanny Weissmüller: Ja, ich bin heute für eine Gewerkschaftssitzung aus dem Wallis, wo ich wohne, nach Bern gefahren.
Sind Sie im Zug lieber Gast, oder fahren Sie lieber selbst?
Ich liebe es, selbst zu fahren. Wenn ich da vorne in der Lokomotive sitze, habe ich immer ein Lächeln auf dem Gesicht und bin glücklich.
Das klingt sehr romantisch. Ihr Beruf muss doch auch sehr anstrengend sein?
Anstrengend sind die Arbeitszeiten. Wir arbeiten immer sechs Tage am Stück, dann haben wir zwei frei. Am sechsten Tag, an dem du zwischen zwei und fünf Uhr morgens aufgestanden bist, da bist du einfach müde. Und das wird sich noch verschärfen. Denn je länger, je mehr möchte man auch in der Schweiz einen 24-Stunden-Betrieb, besonders in den Städten und der Agglomeration.
Haben Lokführer:innen eigene Fahrstile, die Ihnen auffallen, wenn Sie mitfahren?
Ja klar. Wenn wir Lokführer:innen unter uns sind und irgendwohin fahren, dann werweissen wir immer: Das muss ein junger sein, das ist sicher ein älterer Lokführer, der hat wohl schlecht geschlafen. Heute Morgen dachte ich auch: Jetzt ist er aber ein bisschen rassig in den Bahnhof Bern eingefahren, das wird keinen guten Halt geben. Und zack, haben wir alle einmal genickt.
Das heisst, obwohl viele Abläufe automatisiert sind, gibt es noch Spielraum für Eigenheiten?
Insbesondere die Halte sind nicht automatisiert. Wir haben ein paar Hundert Tonnen, die wir anhalten müssen. Und das geschieht alles von Hand. Das Fahren auf Schienen, das läuft von alleine. Aber wenn ich einen Zug fahre, der um die 500 Tonnen schwer ist, und den am richtigen Ort anhalten muss, egal ob bei Eis, Schnee, Regen oder Hitze: Das ist Können.
Sie sind seit zehn Jahren Lokführerin. Zuvor arbeiteten Sie in unterschiedlichen Berufen, etwa in der Informatik oder als Lehrerin.
Unterschiedliche Berufe ja, aber es gab schon eine Linie: Meine Jobs hatten alle mit analytischem und strategischem Denken zu tun, und es ging immer um Zahlen.
Woher kam der Wunsch, sich mit vierzig nochmals neu zu orientieren?
Mein Vater war Ingenieur der Lok RE 460, der «roten Colabüchse», wie sie auch genannt wird. Zu Hause hat er immer viel von seiner Arbeit erzählt. Ein Cousin meines Vaters war Lokführer, ein Grossonkel war Zugchef bei der BLS, und mein Grossvater arbeitete bei Brown, Boveri & Cie. Ich war immer von Bahngeschichten umgeben. Dann beschloss ich als junges Mädchen, dass ich Lokführerin werden will. Mein Vater fand, das sei nichts für Mädchen und ich solle das KV machen.
Das wäre heute fast undenkbar.
Ja, aber meinem Mann hat man damals auch gesagt, was er machen soll. Und wenn ich meine Kinder anschaue – die einen wissen, was sie wollen, die anderen möchten, dass ich ihnen sage, was sie tun sollen. Aber das müssen sie selbst herausfinden, ich will nicht wie meine Eltern sein. Obwohl ich auch weiss, dass mein Vater es damals nicht böse meinte.
Dann haben Sie ihm nie übel genommen, dass er Ihrem Traum im Weg stand?
Nein, er hat nur gesagt: «Ich kenne die Lokführer, ich kenne das Umfeld. Das ist nichts für Frauen.» Ich hatte aber immer ein GA und dachte regelmässig darüber nach, wie toll es gewesen wäre. Und mit vierzig wachte ich eines Morgens auf und dachte: Jetzt hast du dein Leben lang nie das gemacht, was du eigentlich wolltest. Da beschloss ich, es zu probieren.
Rührt Ihre Faszination für diesen Beruf eher von der Liebe für Züge und Technik her, oder ist es die Begeisterung für das Unterwegssein?
Für mich ist es das Zweite: Ich reise sehr gerne. Ich fange zwar jeden Tag am selben Ort an und höre am selben Ort zu arbeiten auf, aber dazwischen bin ich immer woanders. Ich sehe immer unterschiedliche Leute, ich bringe sie zur Arbeit und zurück, sehe, wie sie am Montagmorgen weniger fröhlich aussehen als am Freitagabend. Wir sehen sie sehr gut, die Menschen auf den Perrons, besser, als viele denken. Wenn man oft Regionalzüge fährt, dann sieht man etwa immer dieselben, die rennen. Die kennt man irgendwann.
Trotz der vielen Menschen, die Sie herumfahren, ist Ihr Job schon recht einsam, oder?
Man muss sicher gerne alleine sein und alleine Entscheidungen treffen können. Wenn du ein Problem mit dem Zug hast, kannst du nicht schnell jemanden fragen und diskutieren. Du musst gewisse Dinge intus haben, gewisse Reaktionen müssen einfach kommen. Sie sind schon auch ein spezielles Volk, diese Lokführer:innen.
Dürfen Sie Musik oder Podcasts hören?
Nein. Es gibt beim Fahren verschiedene Töne, auf die wir reagieren müssen.
Ist das dann nicht total langweilig?
Nein, notfalls kann man singen (lacht).
Hanny Weissmüllers (51) Lieblingslokomotive ist die RE 460, ihre Lieblingsstrecke Brig–Genf. Immer dieselbe Strecke fahren möchte sie aber auf keinen Fall, sonst würde ihr langweilig. Nächste Woche erzählt sie, wofür sie mit ihrer Gewerkschaft kämpft.