Durch den Monat mit Hanny Weissmüller (Teil 3): Schlafen Sie gut?

Nr. 38 –

Hanny Weissmüller, oberste Lokführerin der Schweiz, erklärt, wie sie mit der Verantwortung und den Belastungen umgeht, die ihr Beruf mit sich bringt.

Lokführerin Hanny Weissmüller läuft mit Warnweste zwischen den Gleisen
«Wenn man ständig denkt, man habe das Leben von 500 Menschen in der Hand, macht man den Job nicht lange»: Lokführerin Hanny Weissmüller.

WOZ: Frau Weissmüller, hat schon mal jemand die Notbremse gezogen, während Sie gefahren sind?

Hanny Weissmüller: Natürlich.

Kommt das also öfter vor?

Ja. Vor allem, wenn irgendwo ein Festival stattfindet, gibt es immer mal wieder so Vögel, die die Notbremse ziehen, weil sie das lustig finden oder weil sie eingeschlafen sind und ihre Haltestelle verpasst haben.

Wann wäre die Notbremse angebracht?

Als 2019 in Baden der Zugchef eingeklemmt war und mitgeschleift wurde, wäre das gut gewesen. Seither wurden alle Türen überarbeitet, so etwas sollte nicht mehr passieren. Auch ein medizinisches Problem kann ein Grund sein. Aber in einem Regionalzug bin ich in der Regel allein, da bin ich fast gezwungen, bis zum nächsten Bahnhof zu fahren.

Der Zug hält also nicht automatisch an?

Nein, ich kontrolliere den Zug und entscheide das. Die Signale, die im Führerstand losgehen, wenn jemand die Bremse zieht, sind aber sehr alarmierend; das ist nicht angenehm. Man muss dann eine Checkliste im Kopf haben und automatisch durchgehen. Nehmen wir an, jemand zieht die Notbremse in einem Tunnel oder auf einer Brücke, wo es hundert Meter in die Tiefe geht: Wenn ich da anhalte, könnten Leute aussteigen und runterfallen. Ich muss an einem Ort anhalten, wo es nach meinem Ermessen sinnvoll ist, wo ich ein allfälliges Problem beheben, eine Person retten kann.

Wie viele Leute befinden sich in einem vollen Zug?

So zwischen 300 und 500 Personen. Wir spüren auf jeden Fall, wenn der Zug voll ist.

Was genau spüren Sie?

Wir sagen immer, der Lokführer spürt es im Hintern. Wir bemerken Unterschiede bei der Beschleunigung und der Reaktion. Mit einem vollen Zug ist das Anhalten anders als mit einem leeren. Wenn du weisst, dass dein Zug voll ist, musst du vorausschauender fahren.

Belastet Sie der Gedanke nicht, dass Sie das Leben von 500 Menschen in der Hand haben?

Wenn man so denkt, macht man den Job nicht lange. Dann ist man jedes Mal, wenn man in die Kabine steigt, gestresst. Man wäre schon deshalb am Abend total fertig, das ginge nicht. Wir Lokführer:innen sind uns der Verantwortung bewusst und können mit dem Druck umgehen – sonst würden wir für den Job gar nicht ausgewählt. Vor der Ausbildung gibt es psychologische Tests, die das sicherstellen sollen.

Sie haben in einem Interview einmal gesagt, alle wollten immer über das Thema Suizid auf Zugstrecken reden. Dabei klangen Sie etwas genervt. Täuscht dieser Eindruck?

Wenn einen jemand fragt, was man beruflich macht, und man antwortet, man sei Lokführerin, finden die Leute das super. Die zweite Frage ist dann aber immer, wie das sei, wenn man jemanden überfahre. Ich habe kein Problem damit, darüber zu sprechen. Aber die Frage kommt immer sofort.

Warum, denken Sie, beschäftigt dieses Thema die Menschen so?

Ich glaube, es ist eher Interesse als Voyeurismus. Das Thema Suizid beschäftigt die Menschen ganz allgemein. Ausserdem glaube ich, dass sich relativ viele auch selber schon betroffen fühlten. Etwa wenn sie als Fahrgast mitbekommen haben, dass sich jemand vor den Zug warf.

Dass so etwas passieren kann, wäre eine weitere Angst, die einen im Berufsalltag begleiten könnte …

Auch hier: Wenn ich ständig daran denke, halte ich das nicht lange durch. Bei meinem Mann war das so, er war auch Lokführer. Er ging dann wirklich jeden Tag mit der Angst zur Arbeit, es könnte wieder passieren. Er war irgendwann so gestresst, dass er seine Finger nicht mehr strecken konnte. Die Nerven hatten sich verkürzt.

Spricht man unter den Lokführer:innen über Suizid, oder ist das eher ein Tabuthema?

Wir reden schon darüber, vor allem die, die das mal erlebt haben. Man weiss es meistens voneinander. Die Gesprächskultur hat sich in den letzten Jahren sehr verbessert. Auch die SBB machen es gut: Jemand vom Careteam ruft einen an und bietet Unterstützung an. Es ist eine sehr extreme Situation. Wenn dir das passiert, dann schaltet das Gehirn in den Detailmodus. Wenn ich zeichnen könnte, könnte ich ein exaktes Bild der Person erstellen, die sich vor meinen Zug warf.

Auch wenn sie eine ausgeprägte Stressresistenz haben: Wie gehen Lokführer:innen mit der Belastung im Berufsalltag um?

Lokführer:innen sind sehr aktive Menschen. Viele sind in der Gewerkschaft, treiben Sport, wandern oder reisen. Ich denke, man braucht schon einen Ausgleich.

Schlafen Sie gut?

Ja.

Hanny Weissmüller (51) sagt, die Menschen da hinzubringen, wo sie hinmöchten, gebe ihr Sinn. In der letzten Folge erzählt sie vom Leben im Wallis.

Haben Sie Suizidgedanken? In der Schweiz gibt es zahlreiche Stellen, die für Menschen in solchen Krisen da sind. Für Erwachsene: Die Dargebotene Hand, Telefon 143. Für Kinder und Jugendliche: Telefon 147 und www.147.ch.