Omikronwelle: Burn-outs, Ausfälle, Angstzustände
Stimmen aus dem Teil der Gesellschaft, der wieder einmal die Versorgung sicherstellen muss – unter prekären Bedingungen.
Das Telefon von Mirjam Grob klingelte permanent, als der Bundesrat letzte Woche beschloss, die Isolations- und Quarantänedauer auf fünf Tage zu verkürzen. Grob arbeitet bei der Covid-Hotline des Kantons Jura. «Sofort nach der Bekanntmachung haben uns Firmen angerufen und gefragt, ob ihre Angestellten wieder zur Arbeit gehen können», erzählt sie. Zugleich hätten Angestellte gefragt, ob sie jetzt wieder gezwungen seien, zur Arbeit zu gehen.
Schon unter dem alten Isolationsregime seien nach Ablauf der Frist viele Mitarbeiter:innen unter Druck gesetzt worden, «auch wenn sie dafür noch nicht bereit gewesen sind». Jetzt sei das Problem noch grösser geworden. Hinzu komme der Druck, niemanden im Stich zu lassen. «Niemand verursacht gern Mehrarbeit für Kolleg:innen. Und wir hören täglich von Betrieben, in denen alle Mitarbeitenden wegen der vielen Ausfälle völlig überlastet sind.»
Die gelernte Pflegefachfrau
Derzeit sind in der Schweiz laut dem Bundesamt für Gesundheit täglich rund 200 000 Menschen in Quarantäne oder Isolation – trotz verkürzter Fristen. Graubünden hat letzte Woche beschlossen, dass sich Personen mit einem Diplom in der Pflege, die nicht mehr im Beruf tätig sind, beim Kanton melden müssen. Bettina Hoch ist eine von ihnen. In einem Akutspital war sie zuletzt vor sieben Jahren tätig. Als dreifache Mutter und wegen Krankheiten in der Familie erlitt sie ein Burn-out. Danach arbeitete sie vier Jahre lang mit einem kleinen Pensum in einer Kinderspitex. Ende Dezember 2021 kündigte sie erneut. Und jetzt also dieser Aufruf: Einerseits verstehe sie den Kanton, sagt Hoch. «Andererseits: Seit zwanzig Jahren setzen wir uns gegen den Personalnotstand ein – vergeblich.»
Um wieder auf einer Akutstation zu arbeiten, bräuchte Hoch, die heute in der Mittagstischbetreuung und der Aufgabenhilfe arbeitet, eine gute Einführung. Das aber würde Kolleg:innen, die schon jetzt am Anschlag sind, zusätzlich belasten. Pflegende seien grundsätzlich wohlwollende Menschen, sagt sie, Wertschätzung von der Politik erhielten sie aber kaum. «Wir haben auch einen Berufsstolz. So aber können wir die Ansprüche an uns selbst nicht erfüllen. Seit längerem werden immer mehr Fehler in Kauf genommen, und auch der menschliche Umgang leidet. Das will ich nicht, schon gar nicht zu diesem Lohn.»
Die Hortleiterin
Besonders prekär ist die Arbeit in Horten. «Wir sind durch den nahen Kontakt mit ungeimpften Kindern täglich hautnah mit dem Virus konfrontiert», sagt Cécile Manser*, Leiterin eines Horts in der Deutschschweiz. «Umso fataler ist der unzureichende Infektionsschutz: keine Desinfektionsstationen, keine kostenlosen FFP2-Masken. Als ob ein Mindestabstand jederzeit möglich wäre! Kein Wunder, dass sich so viele Mitarbeiter:innen anstecken, bis auch das Reservoir an Springer:innen aufgebraucht ist.»
Aus Angst, den Job zu verlieren, will sie nicht mit ihrem richtigen Namen zitiert werden. Manser spricht von «Durchseuchung auf engstem Raum». Sie lebe seit Wochen fast nur noch für die Arbeit, pflege kaum private Kontakte. Hinzu komme, dass erst 48 Stunden nach dem wöchentlichen Pooltest die Resultate vorlägen – und man so davon ausgehen müsse, ständig mit dem Virus in Tuchfühlung zu sein. Daher würde sie für vorübergehende Teilschliessungen plädieren. Zumal auch klare Regelungen fehlten: «Jede Schule macht es ein wenig anders. Und vieles ist von der jeweiligen Schulleitung abhängig.»
Ähnliches hört man auch von anderen Hortangestellten. Ihre Forderungen: einheitliche, laufend aktualisierte Handlungsanweisungen, die generelle Belieferung mit FFP2-Masken, psychologische Betreuung, Burn-out-Prävention – und schliesslich eine Coronaprämie sowie langfristig Lohnerhöhungen und mehr Personal pro Kind. «Sonst», so Manser, «werden bald viele Betreuungspersonen ein Burn-out erleiden. Angstzustände und Panikattacken sind bereits an der Tagesordnung.»
Die Lokführerin
Auch bei den Lokführer:innen ist der Personalmangel bereits seit Jahren ein Thema. Hanny Weissmüller, die vom Depot Saint-Maurice bei Martigny aus ihre Routen bedient und den Lokomotivpersonalverband in der Gewerkschaft SEV präsidiert, erfährt das täglich. «Heute habe ich um vier Uhr morgens erfahren, dass ich zusätzlich die Halte des ausgefallenen Regionalzugs bedienen muss», sagt sie. «Um die neue Route zu planen, blieben mir aber nur ein paar Minuten.» Der Personalmangel bei der SBB ist seit Jahren gravierend. «Beim ‹Baustellenfahrplan› etwa, der im letzten Sommer galt, vermuten wir, dass es gar nicht um Baustellen ging, sondern vor allem darum, aufgrund des fehlenden Personals die Anzahl der Verbindungen zu reduzieren.»
Derzeit habe sie über 200 Überstunden angehäuft. «Ein Kollege hat kürzlich 64 Stunden innerhalb von sechs Tagen gearbeitet», erzählt sie. Das habe Auswirkungen auf die Sicherheit. «Bremse ich nur einmal nicht richtig, bin ich mitverantwortlich, wenn es zu einem Zwischenfall kommt. Es ist natürlich schwierig, nicht zur Arbeit zu gehen, wenn man sich nicht fit fühlt, und zu wissen, dass andere dann spontan vielleicht an mehreren Tagen statt einer Neun- eine Elfstundentour absolvieren müssen. Irgendwann kommt der Moment, wo man sagt: Ich mag nicht mehr. Ich stehe jeden Tag zwischen zwei und halb drei Uhr auf. Macht man das drei Wochen lang sechs Tage am Stück, leidet die Konzentration. Schon vor Jahren haben wir die SBB-Leitung gewarnt, dass das Lokpersonal knapp werden könnte. Aber sie nahmen das nicht ernst genug.»
Gescheiterte Pandemiebewältigung
Die enorme Belastung, der viele Angestellte derzeit ausgesetzt sind, kennt auch Mirjam Grob nicht nur von ihren Telefonaten: «Wir stehen selbst massiv unter Druck.» Derzeit würden die meisten Mitarbeitenden der Hotline, im Contact Tracing und im Testzentrum sechs Tage pro Woche arbeiten. «Jetzt wird zwar neues Personal gesucht, aber man bietet ihnen nur noch befristete Verträge für einen Monat an.» Zuletzt seien im November mehrere solcher Verträge nicht mehr verlängert worden.
Die Stimmung sei an einem Tiefpunkt angelangt. «Es fragt sich ja auch, wieso wir diese Arbeit überhaupt noch machen. Die Idee war doch eigentlich, die Infektionsketten zu unterbrechen.» So aber funktioniere das schlicht nicht mehr. «Wir wissen, dass Leute teils erst nach mehr als fünf Tagen Symptome entwickeln.» Auch höre sie oft von Leuten, die selbst nach einem positiven Schnelltest zur Arbeit gingen, bis das PCR-Resultat vorliege – weil sie es sich nicht leisten könnten, zu Hause zu bleiben. «Weshalb also eigentlich dieses ganze Theater?», fragt sie sich.
* Name geändert.