Durch den Monat mit Hanny Weissmüller (Teil 4): Warum wollen Sie die erste Klasse nicht abschaffen?
Im letzten Teil des Monatsgesprächs mit Hanny Weissmüller, Lokführerin und Gewerkschaftsführerin, geht es um die Integrationskraft der SP im Oberwallis und um die Übertragbarkeit linker Werte auf die Bahn.
WOZ: Frau Weissmüller, wir sind im Bahnhofbuffet in Brig, wo ihr «Depot» ist. Beginnen und beenden Sie Ihre Schichten immer hier?
Hanny Weissmüller: Ja. Ich bin aber erst seit diesem Monat offiziell im Depot Brig. Nun muss ich all die Strecken lernen, die zu diesem Depot gehören. Morgen habe ich eine Weiterbildung für Domodossola, wo ich künftig hinfahre: Italienisch lernen, andere Signale und Vorschriften kennen. Zu meinem vorherigen Depot, Saint-Maurice, gehörte die Strecke ins französische Annemasse.
Saint-Maurice liegt im französischen Teil des Kantons, nun wohnen Sie seit März im deutschsprachigen Oberwallis, in Naters.
Das ist ganz nah, nur gerade auf der anderen Seite der Rhone oder des Rottu, wie man den Fluss hier nennt.
Aufgewachsen sind Sie aber im Aargau, in der Nähe von Brugg. Wie kamen Sie ins Wallis?
Grund dafür waren die Berge: Im Aargau gibt es keine, und ich fahre sehr gerne Ski. Ausserdem – ich weiss nicht, ob Sie mal in Brugg waren: Von November bis März sieht man da die Sonne eigentlich nie.
Ich kann es mir vorstellen.
Nach der kaufmännischen Lehre zog ich nach Genf, wo ich ein Diplom als Datenbankprogrammiererin machte. Später arbeitete ich dann in Nyon und war zuerst oft in den Ferien im Wallis, bevor ich ganz hierhin zog. Das Wetter ist tatsächlich sonniger und milder als auf der anderen Seite der Berge.
Und wie ist es, hier zu leben?
Als Gewerkschafterin und SP-Mitglied ist es manchmal schon eine Herausforderung – die Mitte-Partei ist sehr dominant im Oberwallis. Die SP ist zwar klein, dafür fand ich schnell Anschluss. Die Sozialdemokrat:innen haben ja sowieso wenig Berührungsängste, und im Wallis ist man froh um jede neue Person.
In Naters kandidieren Sie nun gar für den Gemeinderat. Wie kam es, dass Sie der Partei beitraten?
Während meiner Lehre auf der Gemeinde musste ich jeden Monat ein Heft namens «Dialog» an die Jungbürger:innen verschicken. Das war eine Zeitschrift für politische Bildung, die ich dann eben jeden Monat las. Einmal gab es einen Wettbewerb, bei dem recht schwierige Fragen über Politik beantwortet werden mussten. Der Hauptgewinn war ein Treffen mit Flavio Cotti, dem damaligen CVP-Bundesrat.
Sie gewannen?
Ja, wir waren zehn Leute aus der ganzen Schweiz, die eingeladen wurden. Am Morgen besuchten wir das Bundeshaus, am Nachmittag durften wir Cotti Fragen stellen.
Was haben Sie ihn gefragt?
Ich sprach relativ viel über das Klima. Cotti beantwortete meine Fragen aber nie richtig, und sein Sekretär meinte, ich solle jetzt mal ruhig sein, die anderen hätten auch Fragen. Ich sagte, ich wolle aber, dass Herr Cotti mir antworte. Damals war ich noch frecher.
Sie sind der SP beigetreten, weil Sie Flavio Cotti nicht mochten?
Nein, ich habe mich einfach gefragt, welche Werte mir am nächsten sind. Und ich war schon immer sehr nah beim Menschen.
Wie halten Sie es mit der Überwindung des Kapitalismus, die ja nach wie vor im Parteiprogramm der SP postuliert wird?
Man muss schon auch ein bisschen realistisch sein. Für mich braucht es manchmal zwei Extreme, damit ich meinen Weg finden, mir eine Meinung bilden kann.
Das klingt jetzt ein bisschen wie ein Werbeslogan für die Mitte …
Nein, so meine ich es nicht! Ich spreche von den verschiedenen Positionen innerhalb der SP.
Apropos Überwindung des Kapitalismus: Finden Sie es gerechtfertigt, dass es in den Zügen der SBB immer noch eine erste Klasse gibt?
Ich finde, das Zugfahren sollte bedürfnisgerecht sein. Darum gibt es ja zum Beispiel auch Kinderabteile in grösseren Zügen. Wenn ich selber als Gast Zug fahre, brauche ich die Zeit, um zu arbeiten, darum fahre ich erste Klasse – weil ich darauf angewiesen bin, dass es ruhig ist und ich Platz habe. Wenn es nur eine Klasse gäbe, müsste man Abteile einrichten für Leute, die die Zeit im Zug zum Arbeiten benötigen. Und wenn etwas speziell eingerichtet ist, zahlt man mehr für die Dienstleistung.
Es können sich längst nicht alle, die im Zug arbeiten müssen, erste Klasse leisten …
Ja, das ist klar, wir Angestellte der SBB kriegen das GA für die erste Klasse natürlich sehr viel günstiger.
Und das Einteilen der Menschen in zwei Klassen ist Ihnen als Linke nicht unsympathisch?
Ich sehe es nicht so, dass hier Menschen in zwei Klassen eingeteilt werden. Für mich ist es eine Einteilung nach Bedürfnissen – und für diese gibt es unterschiedliche Preiskategorien. In den Regionalzügen bräuchte es meiner Meinung nach aber keine erste Klasse – da kann man sowieso nicht gut arbeiten.
Hanny Weissmüller (51) hat noch nie gestreikt. Vergangene Woche berichteten diverse Medien von den harzigen Verhandlungen über einen neuen GAV und spekulierten, es könnte bei der SBB zur Arbeitsniederlegung kommen. Doch Weissmüller winkt ab: «Streik ist immer die allerletzte Massnahme.»