Aussenpolitik: Der Gipfel der Swissness

Nr. 37 –

500 Millionen Franken für Schweizer Firmen: Der Bundesrat gleist ein Ukraineprogramm auf, von dem der hiesige Privatsektor profitieren soll. Ein SP-Aussenpolitiker ist alarmiert, das Seco beschwichtigt – aber was hält man in der Ukraine davon?

Aussenminister Ignazio Cassis und Jacques Gerber, Delegierter für die Ukraine
Zwei Parteifreunde: Aussenminister Ignazio Cassis und Jacques Gerber, neuerdings Delegierter für die Ukraine, an der Medienkonferenz letzte Woche. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

Irgendwann fiel Helene Budliger Artieda offenbar selber auf, dass sie allfälligen Missverständnissen noch rechtzeitig vorbeugen sollte. Mit ihrem Ukraineengagement wolle die Schweiz nicht in erster Linie den eigenen Privatsektor, sondern die Ukraine unterstützen, sagte die Staatssekretärin des Seco (Staatssekretariat für Wirtschaft) gegen Ende ihrer Ausführungen an einer Medienkonferenz vergangene Woche in Bern. Minutenlang hatte sie zuvor von den «vielen Opportunitäten» gesprochen, die sich für die Schweiz beim Wiederaufbau der Ukraine böten, und davon, dass Schweizer Unternehmen bekanntlich «smarte Investitionen» seien. Als müsste die Ukraine der Bevölkerung als Business Case verkauft werden.

Der unerfahrene Delegierte

Anlass der Medienkonferenz war das «Länderprogramm Ukraine» für die nächsten vier Jahre, das FDP-Aussenminister Ignazio Cassis vorstellte. Dabei präsentierte er auch gleich den neuen Delegierten, der für die Implementierung eingesetzt wird: Jacques Gerber, 51-jähriger Agrarökonom, einst Angestellter im Landwirtschaftsdepartement des Bundes, seit 2015 Wirtschafts- und Gesundheitsminister im Kanton Jura.

Was den FDP-Politiker genau für den Delegiertenposten qualifiziert, bleibt das Geheimnis seines Parteifreunds im Bundesrat. In der Ukraine sei er noch nie gewesen, liess Gerber die anwesenden Journalist:innen jedenfalls unumwunden wissen; vor zwei Jahrzehnten habe er im Rahmen seiner Doktorarbeit immerhin ein Jahr in Tansania verbracht. Stattdessen hob Gerber seine wirtschaftliche Vernetzung in der Schweiz hervor sowie seine viele Jahre zurückliegende Erfahrung mit der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Als Delegierter wird Jacques Gerber nun über vier Jahre hinweg 1,5 Milliarden Franken verwalten. Schon im April hatte der Bundesrat verkündet, dass dieser Betrag gänzlich dem schweizerischen Budget für internationale Zusammenarbeit (IZA), das grösstenteils von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) verwaltet wird, entnommen werde. Und im Juni wurde präzisiert, dass ein Drittel davon – also 500 Millionen Franken – zur «besseren Einbindung» des schweizerischen Privatsektors aufzuwenden sei.

Geschäftschance für die Schweiz?

Das heisst konkret: Dieses Geld soll an Schweizer Unternehmen gehen, die in der Ukraine wirtschaften, auch zwecks sichtbarer «Swissness», wie es im bundesrätlichen Communiqué von letzter Woche heisst. SP-Aussenpolitiker Fabian Molina kritisiert die bundesrätliche Ausrichtung scharf: «Es wird immer deutlicher, dass in der Ukraine vor allem Schweizer Eigeninteressen verfolgt werden sollen.»

Skandalös sei nicht nur, dass das Ukraineprogramm vorerst gänzlich aus dem IZA-Budget und damit auf Kosten des Globalen Süden finanziert werde – sondern genauso, dass die operativen Kompetenzen bei einem einzelnen Delegierten konzentriert würden. Gerber wird direkt Aussenminister Cassis und Wirtschaftsminister Guy Parmelin unterstellt sein und den jeweils zuständigen Stellen beider Departemente vorstehen. Dass überdies Privatunternehmen in einem solchen Ausmass eingebunden würden, zeige auf: «Die Schweiz behandelt die Ukraine vor allem als Geschäftsmöglichkeit.»

Die Sichtweise beim Seco präsentiert sich freilich anders. Andrea Rauber Saxer, die Leiterin der «Arbeitsgruppe Ukraine», hebt hervor, dass im Ukraineprogramm weiterhin eine Milliarde Franken für das bestehende Engagement der Schweiz vorgesehen sei: für humanitäre Hilfe, Entwicklungsarbeit und Friedensförderung. «Wir haben einfach gemerkt: Die Instandhaltung und der Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur sind ein derart grosses Projekt, dass dafür zwingend auch private Gelder mobilisiert werden müssen», erklärt Rauber Saxer.

In einer ersten Phase solle der Wiederaufbau der Ukraine vor allem mit Schweizer Unternehmen, die bereits in der Ukraine aktiv sind, unterstützt werden. Einige Dutzend seien dies derzeit, vor allem in der Güterproduktion. Und sie bräuchten dringend Unterstützung, sagt Rauber Saxer: Mit Schweizer Hilfe sollten Produkte hergestellt werden, die vor Ort dringendst benötigt würden. Von den Firmen werde verlangt, eigene Investitionen folgen zu lassen, Arbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten oder Arbeitskräfte auszubilden – insbesondere Frauen, Veteran:innen oder auch Geflüchtete, die aus dem Ausland zurückkehrten. «Dadurch schaffen wir eine Win-win-Situation», sagt Rauber Saxer. Mit der weitreichenden Einbindung des Privatsektors folge man überdies dem ausdrücklichen Wunsch der ukrainischen Regierung.

Die Tücken des Wiederaufbaus

Was aber ist der Wunsch der ukrainischen Bevölkerung? «Die meisten Menschen fragen derzeit nicht danach, auf welchem Weg das Geld in die Ukraine kommt», sagt dazu die Kyjiwer Soziologin Nataliia Lomonosova: «Es muss einfach kommen.» Gerade jetzt, da die Menschen aufgrund der russischen Bombardements immer häufiger von immer länger anhaltenden Blackouts betroffen seien, sei jede ausländische Investition willkommen.

Als Expertin für Arbeitsrechte und Sozialpolitik hat Lomonosova dennoch einen kritischen Blick auf den privatwirtschaftlichen Fokus, den nicht nur die Schweiz, sondern auch viele weitere Teilnehmer:innen der Wiederaufbaukonferenzen in Lugano, London und zuletzt Berlin an den Tag legten. Darin liege die Gefahr, den Wiederaufbauprozess bereits jetzt in Bahnen zu lenken, der profitorientierten Akteur:innen grosse Gestaltungsmacht einräume. Dabei sei innerhalb der ukrainischen Bevölkerung seit Kriegsbeginn eine wachsende Sensibilität gegenüber Verteilungsfragen und sozialer Gerechtigkeit spürbar: «Zwar trifft der Krieg alle Menschen, aber die Bürde ist nicht gleich verteilt», sagt Lomonosova. «Allein deshalb wäre es falsch, die Privatwirtschaft beim Wiederaufbau der Ukraine über öffentliche Institutionen zu stellen.»

Dem neuen Ukrainedelegierten Jacques Gerber gibt Nataliia Lomonosova vor allem zwei Dinge mit auf den Weg. Die Schweiz müsse erstens strenge Transparenzvorschriften bei der Geldvergabe implementieren. «Die ukrainische Öffentlichkeit muss sich darüber informieren können, wie die Investitionen im Land zustande kommen», so Lomonosova. Und zweitens ruft sie dazu auf, dass die Schweiz keine ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse fördere. «Speziell im Bausektor gibt es viele Probleme: schlechte Arbeitsbedingungen, viele Unfälle, Schwarzarbeit ist verbreitet», gibt die Soziologin zu bedenken. «Die Schweiz darf nicht zulassen, dass ihre Unterstützungsgelder am Ende zulasten ukrainischer Arbeiter:innen eingesetzt werden.»