Österreichische Kommunalpolitik: Der Papst hat nicht immer recht

Nr. 38 –

Nenzing in Vorarlberg gilt als Vorzeigedorf der FPÖ: Hier zeigt die Partei ein ganz anderes Gesicht als auf Bundesebene – auch deshalb kann man in Nenzing lernen, was der Rechtsruck bedeutet.

Der Katholizismus ist im Vorarlberg nicht mehr so relevant wie einst. Die Kirche verliert Mitglieder und Bedeutung. Der Nenzinger Dorfpfarrer ist für die WOZ nicht erreichbar; er ist in Indien in den Ferien. Gepredigt wird trotzdem: Auf Werbeflächen verheisst der FPÖ-Möchtegern-Volkskanzler Herbert Kickl: «Euer Wille geschehe». Er hetzt und erhitzt die Gemüter – und darf auf ein Rekordergebnis seiner Partei hoffen.

In Nenzing ist die rechtsextreme FPÖ schon lange an der Macht. Das Dorf mit 6442 Einwohner:innen, rund zehn Fahrminuten vom dicht besiedelten Vorarlberger «Unterland» an der Schweizer Grenze entfernt, ist idyllisch; umgeben von Bergen, schöne Häuser, schöne Gärten, schönes Gasthaus, alles schön. Am Rand des Dorfs liegt das Haus von Johannes Rausch. Er kocht in seiner kleinen Küche Kaffee, das sei derzeit einer der wenigen «einigermassen wohltemperierten» Räume im Haus, sagt er. Sabine Wöllgens sitzt schon da. Eine tickende Uhr, ein Aschenbecher auf dem Tisch, ein kleines Büchergestell in der Ecke.

Die beiden verantworten gemeinsam das «Luaga und Losna»-Festival für Kinder- und Jugendtheater, das zweimal jährlich stattfindet, jeweils einmal in Nenzing. Mehrere Aufführungen von Ensembles aus ganz Europa werden da gezeigt, kritisch und aktuell, der Anlass ist über die Region hinaus von Bedeutung.

Johannes Rausch betreibt ausserdem ein eigenes Theater, das «Theater der Figur». Er gibt damit über sechzig Vorstellungen pro Jahr, immer wieder in anderen Lokalen. Er ist zwar über siebzig, aber in gewisser Weise auch «nicht umbringbar», wie er sagt: Vor einigen Jahren kündigte er in einem Brief an die Behörden an, dass er fortan nie wieder Subventionen für sein Theater der Figur erhalten wolle. «Ich kriege mittlerweile eine Pension und bin nicht mehr darauf angewiesen», erzählt Rausch. «Jetzt bin ich wirklich unabhängig und kann hier meine Meinung ganz ungeniert kundtun – auch wenn sich nun die Zeiten ändern.»

Unfassbar pragmatisch

Zeitenwende? Eigentlich war die FPÖ schon mehrmals an der Regierung beteiligt, und hier im Dorf stellt sie seit mehr als zwei Jahrzehnten den Bürgermeister. Aber das Beispiel Nenzing zeigt eben auch: Der Rechtsruck ist nicht nur eine Frage der Parlamentssitze rechter Parteien, sondern vor allem eine der dramatischen Verschiebung des Diskurses innerhalb der Parteien.

Konkret bedeutet das: «In den neunziger Jahren gingen in Österreich noch Zehntausende auf die Strasse, um gegen manche Positionen der FPÖ zu protestieren», sagt Florian Kasseroler. «Heute sind diese längst in fast allen Parteien normal.» Kasseroler ist der Bürgermeister von Nenzing, seit 21 Jahren. Und er ist in der FPÖ.

An der Wand seines Büros hängt Jesus und schaut vom Kreuz herab. Zur politischen Linie der Parteioberen sagt Kasseroler: «Ich war auch nicht mit jedem Papst gleich einverstanden, aber aus der katholischen Kirche bin ich deshalb auch nicht ausgetreten.» Zuletzt wurde er mit mehr als siebzig Prozent der Stimmen gewählt. Bei den vergangenen Europawahlen erzielte die Partei im Dorf 29,3 Prozent. Im Gemeinderat stellt sie 13 von 27 Mitgliedern.

Seine Beliebtheit rührt auch daher, dass Kasseroler eine andere Linie als Kickl verfolgt. Nach 21 Jahren im Amt sei er unter anderem stolz darauf, «dass Weltoffenheit und Innovationskraft hier nicht nur Schlagworte sind». Und sagt etwa: «Umwelt- und Klimaschutz, Gemeinwohlökonomie sowie Energieunabhängigkeit sind wichtige Eckpfeiler der politischen Arbeit der Gemeinde.» 2019 wurde das Dorf als «Pionier» bei der Umsetzung der Uno-Nachhaltigkeitsziele in Österreich ausgezeichnet, dieses Jahr erhielt es den Vorarlberger Integrationspreis.

Nenzing trotzt vielen Trends, mit denen andere Dörfer zu kämpfen haben. Die Gemeinde wächst; es gibt immer mehr Arbeitsplätze. Mehrere Firmen betreiben hier Produktionsstätten, etwa der Industrieriese Liebherr, der in Nenzing Bagger und Bohrer produziert. Es gibt Dutzende Vereine und einen grossen migrantischen Bevölkerungsanteil. Seit einigen Jahren setzt die Gemeinde in den Kindergärten auf sprachliche Frühförderung. Nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine hat man die Tennishalle in ein Ankunftszentrum umfunktioniert, was keine Kontroversen ausgelöst habe, wie der Bürgermeister sagt.

Alternativen zum Hass

Eine gute Antwort auf die Frage, wieso er trotz seines Pragmatismus in der FPÖ politisiert, bleibt Kasseroler aber schuldig. Der Bürgermeister sieht sich in der Tradition eines liberalen Parteiflügels. Was er nicht sagt: dass dieser in der FPÖ kaum mehr Platz hat. Kickl und seine Mitstreiter, die den letzten Machtkampf in der Partei gewonnen haben, überziehen das Land mit Hass und Hetze. Kasseroler hat in der Vergangenheit dagegen einmal überregional für Schlagzeilen gesorgt, als er sich für den Bau eines Gebetshauses für die türkische Community einsetzte. Vom aktuellen Kurs der FPÖ distanziert er sich aber nicht. Er spricht bloss von «rhetorischer Zuspitzung». Wie er wirklich tickt, ist kaum fassbar. Und mit seiner pragmatischen Art trägt er womöglich zur Normalisierung seiner rechtsextremen Partei bei.

Nun ist Kasserolers Zeit als Bürgermeister bald zu Ende: Noch einmal will er nicht antreten. Klar ist: Nur weil das Dorf schon heute in FPÖ-Hand ist, heisst das nicht, dass es hier nicht noch düsterer werden kann. Was er sich für die Zukunft seines Dorfs wünscht? «Ein bisschen mehr Demut und Zuversicht», sagt er. «Vielleicht Solidarität – wenn man sich das wünschen darf.»

Alles Dinge, für die seine Partei nicht steht. Melitta Gassner schon eher. Die Biologin ist für die Grünen in der Kommunalpolitik aktiv und Obfrau des kommunalen Umweltausschusses. «Manchmal ist es schon nicht ganz einfach, eine Grüne in einem FPÖ-Dorf zu sein», sagt sie. Die Leute wüssten schliesslich, dass sie «die Grüne» sei. «Aber meine Arbeit wird auch wertgeschätzt, und ich verstehe mich mit vielen Leuten gut.» Dazu beitragen würde sicher auch, dass sie nicht davor zurückscheue, bei einem Dorffest nach ein paar Bieren einen Witz zu klopfen, erzählt sie.

Sie ist hier geboren, investiert viel Zeit in die Gemeinde. Und betont, dass sie gut mit dem Bürgermeister zusammenarbeite. Derzeit plant sie zusammen mit dem Obst- und Gartenbauverein einen Gemeinschaftsgarten, der durch die Gemeinde errichtet wird. In der Vergangenheit hat sie etwa dafür gesorgt, dass ungenutzte Fruchtbäume markiert werden, damit die Bevölkerung sich daran bedienen kann. «Es gibt viele Leute wie mich, die im Kleinen etwas basteln – und das hat im Grossen sicherlich auch eine Wirkung.»

Es gehe dabei auch darum, einen Gegenpol zur Rechten aufrechtzuerhalten, sagt Gassner. Diese mag hier in Nenzing pragmatisch sein, ihr ideologisches Fundament aber bleibt bedrohlich. So sagt auch Johannes Rausch: «Ich möchte den Kindern und Jugendlichen mit meinem Theater eine andere Weltsicht anbieten.» Er sei in den 1990er Jahren von Wien nach Nenzing gezogen, als es in Vorarlberg noch gar keine freie Theaterszene gegeben habe. Er habe sie gemeinsam mit seiner mittlerweile verstorbenen Frau aufgebaut, mit der er auch die Grüne Partei in Vorarlberg mitbegründet habe.

Es ist die einzige Partei, die neben FPÖ und ÖVP noch im Gemeinderat vertreten ist. Die lokale SPÖ ist schon vor einiger Zeit eingegangen – Personalmangel. Bevor sich Melitta Gassner bei den Grünen zu engagieren begann, drohte diesen das gleiche Schicksal. «Das konnte ich nicht zulassen», sagt sie. «Auch wenn ich mich manchmal frage, wieso ich mir all diese Arbeit antue.» Wobei sie die Antwort darauf vielleicht auch gleich selbst gibt. Was sie über die bevorstehenden Wahlen denke? Über den grossen Erfolg der rechten Rhetorik Kickls? «Das macht mir Angst», sagt sie.