Literatur: Hier hilft nur starker Tee
Es sterben so viele Menschen, wie Weizenhalme gemäht werden: In seinem zuletzt auf Deutsch erschienenen Roman erzählt der chinesische Autor Yan Lianke von den Exzessen einer abgründigen Nacht.

In einer Kreisstadt in Zentralchina lebt der vierzehnjährige Erzähler Niannian mit seinen Eltern, die einen Bestattungsladen betreiben. Aus Papier schneiden und falten sie Vögel und anderes Getier als Grabbeigaben. Während sie nur knapp über die Runden kommen, profitiert der Onkel von seinem Krematorium und dem Öl, das er beim Verbrennen der Leichen gewinnt. So weit, so ungerecht. Doch eines Nachts beginnen die Bewohner:innen der Stadt, aus purer Erschöpfung in einen schweren Schlaf zu kippen, fallen noch auf dem Acker in einen tiefen Traum. Gleichzeitig bricht eine Finsternis über die Stadt herein, weil die Sonne stirbt und mit ihr auch die Zeit.
Das ist die Ausgangslage von «Der Tag, an dem die Sonne starb», des jüngst auf Deutsch erschienenen Romans des chinesischen Autors Yan Lianke, der darin mit zahlreichen Volten die Exzesse jener Nacht beschreibt. Anders als der Literaturnobelpreisträger und Autorenkollege Mo Yan vermeidet Yan Lianke allzu drastische Darstellungen; seine Werke dürfen in China dennoch nicht verkauft werden. Er ist – es klingt paradox – Literaturprofessor an Universitäten in Peking und Hongkong – womöglich macht er sich in seinen Romanen deshalb so gern über das System der Volksrepublik lustig. Im früheren Roman «Dem Volke dienen» beispielsweise, in dem Maos Motto ad absurdum geführt und in den Liebesnächten eines Dorfes zerfleddert wird. Unangenehm aufgestossen ist der Regierung auch der Tatsachenroman «Der Traum meines Grossvaters», in dem sich die Bevölkerung mit HIV infiziert, weil sie ihr Blut verkauft – wovon die chinesische Armee profitiert.
Luzider Idiot
Wenn der Alltag zum Albtraum wird, gehen die Menschen in «Der Tag, an dem die Sonne starb» auf die Strasse. Der Chronist dieser Nacht ist also Niannian, von allen «Dummkopf» genannt – er gehört zu den Idioten der Weltliteratur, die luzide durch die Welt gehen und mehr von ihr verstehen als alle anderen. So behält auch allein Niannian einen klaren Kopf in dieser Nacht, in der so viele Menschen sterben, «wie Weizenhalme gemäht wurden».
Im Traumwandeln also, das sich wie ein Steppenbrand ausbreitet, ja ansteckend zu sein scheint, tun die Menschen, was sie schon immer tun wollten. So erklärt der Vater es Niannian, so erklärt er es sich selbst. Nur als Schlafwandler:innen sind sie in der Lage, ihre Nachbarin, ihren Nebenbuhler oder wen auch immer zu töten. Denn wenn wer im Schlaf gegen das Gesetz verstösst, muss der dann überhaupt dafür geradestehen? Schliesslich weiss man tagsüber nichts von seinen nächtlichen Träumen und im Traum nicht, was davor gewesen ist.
So tauchen im Roman nicht wenige auf, die das Traumwandeln nur vortäuschen, um rücksichtslos zu morden und zu plündern. Bloss Niannian weiss die Richtigen von den Falschen zu unterscheiden, denn bei den Schlafwandler:innen wird das Weiss in den Augen «wie zwei grobe, verwaschene, schmutzige Lappen». Das Einzige, was in diesem Wahn hilft, ist starker Tee, der die Leute wieder munter macht, «als würden lauter kleine Knospen aufgehen». So ziehen Vater und Sohn durch die Stadt, um Tee zu verteilen.
Wach bleiben
Der Furor dieses Romans speist sich aus einer einzigartigen sprachlichen Virtuosität. Denn, so sagte der Autor in einem Interview: «Meine Angst vor dem wirklichen Leben hat mich dazu gebracht, in meine Fiktion zu flüchten.» Und diese spickt er mit flirrenden Bildern. Die bürgerkriegsähnliche Szenerie beschreibt der Autor als einen Strudel in Schwarz und Weiss, als hätte man schwarze Tusche in weissen Lack geschüttet und verquirlt. Auch arbeitet Lianke bewusst mit Wiederholungen. «Da will einer im Schlaf Wasser holen, fällt in den Brunnen und ertrinkt. Will im Schlaf noch Wasser aus dem Brunnen holen. Will Wasser holen im Schlaf!» – als wollte er sichergehen, dass sowohl er als auch die Leser:innen jede Nuance dieses Irrsinns begreifen. Den Sound des Romans und die Vexierspiele des Autors hat der Übersetzer Marc Hermann virtuos umgesetzt, ohne die Sprache überzustrapazieren.
Die einzige Möglichkeit, dem Wahn etwas entgegenzuhalten, wenn Fremde und Einheimische sich bekriegen, wenn Gier und Träume sich in die Quere kommen, wenn das Volk einer kollektiven Amnesie verfällt: wach bleiben. Dies kann durchaus im allegorischen und politischen Sinn verstanden werden. Den Roman deshalb bloss als Kritik an den politischen Exzessen in der chinesischen Geschichte zu lesen, wäre aber zu eng gefasst. Der Autor, der übrigens immer wieder selber und selbstironisch durch seinen Roman schlurft, richtet sich im Vorwort an die ganze Welt: Wenn Arbeit Menschen zum Schlafwandeln bringt, ist alles denkbar. Wenn aus dem Traum von einem besseren Leben, für das sich die Menschen unentwegt verbiegen, bevor sie völlig überarbeitet niedersinken, ein Albtraum wird, werden Konventionen und Gesetze ausgeschaltet und die Entfesselung von Trieben, unterdrückten Gefühlen, Wunschträumen in Gang gesetzt. Dann hilft auch der stärkste Tee nicht mehr.
