Naher Osten: Vergeltung, und dann?

Nr. 40 –

Mit der Tötung des Hisbollahchefs Hassan Nasrallah in Beirut und den Luftangriffen im Libanon und im Jemen hat Israel den Krieg gegen die Miliz weiter eskalieren lassen. Laut offiziellen Angaben wurden im Libanon Hunderte Menschen getötet, Hunderttausende sind auf der Flucht. Wie immer trifft es vor allem die Zivilbevölkerung.

Am Montagabend sind zudem israelische Bodentruppen in den Südlibanon vorgedrungen. Damit hat die fünfte israelische Invasion im Nachbarland seit 1948 begonnen. Zwar vermochte Israel die Führungsspitze der Hisbollah durch die Pagerexplosionen vor zwei Wochen und die Luftangriffe zu töten, doch ein vollständiger Sieg über den Gegner im Norden bleibt ausser Reichweite. Das weiss auch der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu.

Die Hisbollah formierte sich 1982 mit Unterstützung des Iran nicht nur zu einer militärischen Macht, sondern verschaffte sich als Partei im Parlament auch grossen politischen Einfluss in dem konfessionell zersplitterten Land. Nasrallah, seit 1992 war er Anführer der Hisbollah, ist für seine Anhänger:innen ein Held. Für seine Gegner:innen war er ein Verräter, der die Interessen des Libanon dem Iran unterordnete. Der selbsternannten «Partei Gottes» gelang es, Israel im Jahr 2000 in einem Guerillakrieg nach achtzehnjähriger Besetzung aus dem Südlibanon hinauszudrängen.

Nun ist die Hisbollah deutlich geschwächt. Allerdings wäre es verfrüht, schon eine Grabinschrift zu verfassen. Zwar hat Nasrallahs Tod Verunsicherung innerhalb der paramilitärischen Organisation hervorgerufen, das entstandene Machtvakuum muss schnellstmöglich gefüllt werden. Doch Haschem Safi al-Din, ein Cousin Nasrallahs, wird schon als dessen Nachfolger gehandelt. Und Israels Ausschaltung des islamistischen Führungspersonals kann die Strukturen der Hisbollah nicht zerstören. Die Miliz verfügt weiterhin über Langstreckenraketen, die der militärischen und zivilen Infrastruktur Israels Schaden zufügen könnten. Ihr Tunnelsystem ist widerstandsfähiger als jenes der Hamas im Gazastreifen.

Am Dienstagabend hat der Iran Israel mit zahlreichen Raketen angegriffen. Die grosse offene Frage bleibt, wie er sich weiter verhalten wird. Das Regime unterstützt die Hamas, die Hisbollah, die jemenitischen Huthi, schiitische Milizen im Irak und Kämpfer im Westjordanland mit Geld und Waffen, damit sie gegen seinen Erzfeind Israel kämpfen. Es hat so auch den gegenwärtigen Krieg mit ausgelöst. Die tödlichen Angriffe auf den Hamas-Chef Ismail Hanija Ende Juli in Teheran und den Hisbollahführer Nasrallah in Beirut waren für die Islamische Republik ein schwerer Schlag – und eine weitere Demütigung für Revolutionsführer Ali Chamenei. Sein Regime verfügt über ein umfangreiches Raketenarsenal und behält grossen Einfluss auf seine Stellvertreter im Nahen Osten.

Doch innenpolitisch steckt der Iran in einer Dauerkrise: Die Wirtschaft steht am Abgrund, die Machthaber exekutieren im Akkord Kritiker:innen, weil sie wieder Proteste wie im Jahr 2022 fürchten. Der Grossteil der Bevölkerung will keinen Krieg, ein solcher würde den Iran ins Chaos stürzen. Israel kalkuliert das mit ein. Unbeeindruckt von US-Präsident Joe Bidens Forderungen nach einer Waffenruhe und Sicherheitsgarantien von arabischen Staaten geht Netanjahu weiter gegen seine Feinde vor. Die Zerstörung und die Gewalt in Gaza schreiten voran, während 101 israelische Geiseln weiter auf ihre Befreiung warten und ohne dass eine politische Strategie für die Zeit nach dem Krieg erkennbar wäre.

Jetzt kommt es darauf an, wie Netanjahu reagiert. Israel hat bewiesen, dass es seinen Gegnern militärisch und nachrichtendienstlich überlegen ist. Nun könnte es seine Stärke für eine diplomatische Lösung einsetzen. Ein solcher Weg widerspricht jedoch den Interessen Netanjahus. Der vor dem 7. Oktober 2023 politisch angeschlagene «Bibi» will um jeden Preis Stärke demonstrieren und auf seine rechtsextremen Koalitionspartner Rücksicht nehmen. Eine Abkehr von der Gewalt und eine friedliche Lösung der zweifellos schweren Interessengegensätze im Nahen Osten rücken weiter in die Ferne.