Durch den Monat mit Annina Hess-Cabalzar (Teil 1): Wie war das im Affenkasten von Zürich?
Aufgewachsen in einem liberalen Pfarrhaus, kam Annina Hess-Cabalzar früh mit den Nöten von Menschen in Kontakt. Das prägt das Denken und Handeln der Psychotherapeutin bis heute.
WOZ: Frau Hess-Cabalzar, wie fanden Sie zu Ihrem Konzept der Menschenmedizin, einer ganzheitlichen Gesundheitsversorgung?
Annina Hess-Cabalzar: Über Umwege. Doch mein Leitmotiv war schon früh relativ klar.
Welches Leitmotiv?
Den Menschen in ihrer existenziellen Vielfalt beizustehen. Prägend waren sicher meine Erfahrungen als Pfarrerstochter. Mein Vater war ein sehr pragmatischer, liberal und sozial denkender Pfarrer. In unserer Pfarrwohnung in Davos hatten wir immer wieder unterschiedlichste Leute bei uns am Tisch. So bekam ich früh viel Freud und Leid mit.
Zum Beispiel?
In tiefer Erinnerung ist mir eine Familie, deren Haus unter eine Lawine gekommen war. Ein Kind wurde dabei getötet. Die Anteilnahme an solchen Schicksalen hat mich geprägt. Zur Religion hatte ich aber schon früh ein zwiespältiges Verhältnis. Was soll dieses Konstrukt, wenn ja doch alle leiden? Rebellion gegen das menschliche Leiden: Das war auch in meiner Berufswahl bestimmend. So begann ich nach der Matura, Jus zu studieren. Merkte aber schnell: Das ist es nicht. Ich will leibhaftiger mit Menschen zu tun haben. Auch das hat wohl mit meiner Kindheit zu tun.
Womit genau?
Meine Eltern kommen aus romanischen Familien aus den Bergen. Damit verbunden war eine gewisse Sippenhaftigkeit. Vom Blutverwandtschaftlichen habe ich mich gelöst – doch die Verbundenheit, das Integrative, die Untrennbarkeit von Körper, Geist und Seele, auch die Interprofessionalität, die in unserer Philosophie der Menschenmedizin eine zentrale Rolle spielt: All das hat auch mit dieser Erfahrung zu tun.
Als Pfarrerstochter aufzuwachsen: Ist das nicht an sich schon speziell?
Als einzige Tochter neben drei Brüdern war man schon ein wenig ausgestellt. Diese Rolle habe ich dann auch gespielt. So war ich sicher ein Stück braver als mein eigentliches Naturell. Gelitten habe ich aber nicht. Schwierig war es nur, wenn ich Blödsinn machte. Da hiess es dann: Also die vom Pfarrer sollte das nicht.
Davos in den frühen Sechzigern: Winter, Sport und Schnee …
Oh ja! An freien Nachmittagen sausten wir auf unseren Ski die Piste runter – und machten uns über die Kinder aus dem Unterland lustig. Vor allem über die Zürcher:innen. Wir nannten sie «Schweizer Schwaben». Ihretwegen hatten wir ja keine Sportferien – und dann kommen die mit ihren schönen Hösli in die Skischule! Ansonsten hatten wir vor allem mit den Kindern der Angestellten in den Hotels oder Heilstätten Kontakt. Die Schulklassen waren recht durchmischt. Die ersten beiden Gymijahre in Davos erlebte ich als viel lockerer als jene in der Höheren Töchterschule in Zürich.
Warum mussten Sie denn nach Zürich?
Unser Vater fand, es sei Zeit, einem anderen Pfarrer Platz zu machen. Wir Kinder wollten auf keinen Fall weg. Schon gar nicht nach Zürich. Wir haben richtig rebelliert. Doch unsere Eltern entschieden sich, die Stelle in der Predigerkirche anzunehmen.
Wie war das für Sie?
Ein Kulturschock. Neben den von mir aus gesehen gestylten Kameradinnen in diesem Affenkasten, von denen die meisten an der Goldküste wohnten, kam ich mir komisch vor. Lago mio, dachte ich, wie lauf ich denn rum!
Affenkasten?
So nannte man die damalige Töchterschule – wegen der Turnhalle im Parterre. Doch ich habe mich schnell angepasst: Nach einem halben Jahr sprach ich Zürideutsch und trug Stöggelischuhe. Ab etwa siebzehn, als ich länger ausgehen und in die Nacht hinein tanzen durfte, wurde die Stadt definitiv zu meinem neuen Zuhause. Nach unseren Samstagabendausgängen sass ich mit meinen Gspänli oft bis in die Morgenstunden in unserem Pfarrhaus. Meine Eltern schauten immer, dass es genug Spaghetti hatte, mir selbst wäre das nie in den Sinn gekommen. Ich schaute einfach, dass vor 5 Uhr Schluss war mit Party. Kurz bevor mein Vater aufstand, um die Sonntagspredigt zu memorieren – und dazu das von uns benutzte Geschirr abzuwaschen.
Wie grosszügig!
Ich fand das normal.
Wie erlebten Sie diese von der 68er-Bewegung geprägte Zeit Anfang der Siebziger?
Als aufregend. Und spannungsgeladen. In der Schule sagten sie uns: Ihr seid die höheren Töchter, die dürfen nicht an Demos. Einige unter uns haben da aber schon recht Gas gegeben. Ich selbst dagegen war da noch vor allem mit mir selbst beschäftigt.
Womit genau?
Mit der neuen Freiheit, die die Pille mit sich brachte. Wobei: So ganz unbelastet war das dann doch nicht. Wir waren ja die erste Generation, die diese Freiheit ausprobierte. Für viele junge Frauen stellte sich immer noch die Frage: Beruf oder Familie? Diesen Kulturwandel musste jede für sich durchleben – auch mit den Prägungen durch die teils noch immer recht konservative Erziehung.
Annina Hess-Cabalzar (73) ist Initiantin und Präsidentin der Akademie Menschenmedizin.