Durch den Monat mit Annina Hess-Cabalzar (Teil 3): Hat das Manifest schon etwas ausgelöst?
Als Präsidentin der Akademie Menschenmedizin kämpft Annina Hess-Cabalzar für eine grundlegende Richtungsänderung im Gesundheitswesen. Dazu hat die Akademie konkrete Forderungen formuliert.

WOZ: Frau Hess-Cabalzar, im August hat die Akademie Menschenmedizin (amm) ein Manifest mit dreizehn Forderungen publiziert. Darin steht: «Die eigentliche Krise moderner Gesundheitssysteme ist nicht finanziellen, sondern geistigen Ursprungs.» Können Sie das erläutern?
Annina Hess-Cabalzar: Das heutige System basiert auf Werten und Handlungsweisen der Finanzwirtschaft und der Industrie. Dass das falsch ist, wird immer deutlicher.
Was sagen Sie da zur Gesundheitsreform Efas, über die am Sonntag abgestimmt wird?
Ich persönlich finde eine einheitliche Finanzierung über alle Bereiche sinnvoll. Das Grundübel der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens mit all den Fehlanreizen ist damit natürlich nicht beseitigt. Ob ambulant oder stationär behandelt wird, sollte nur aufgrund der individuellen Situation der Patient:innen entschieden werden – und nicht aus kommerziellen Interessen.
Hauptproblem ist doch, dass auch die Langzeitpflege überwiegend über Prämien finanziert und die Verantwortung dafür weitgehend den Kassen überlassen werden soll.
Ja, das ist die grösste Schwachstelle. Gerade für die Langzeitpflege braucht es sowieso eine radikale Verbesserung. In der nächsten Fassung unseres Manifests wird dieses Thema eine zentralere Rolle einnehmen.
Wie soll denn das Gesundheitssystem entkommerzialisiert werden?
Der Fokus muss weg von der Markt- und hin zur Versorgungsoptik. So etwa müsste die von uns mitangestossene Änderung für Kaderärzt:innen hin zu Fixlöhnen ohne zusätzliche Entschädigungen überall umgesetzt werden. Um zu garantieren, dass sie unabhängig von Eigen- und Betriebsinteressen dem Wohl der Patient:innen dienen. Auch die Fallpauschalen müssen weg. Sie verstärken die Konkurrenz zwischen Spitälern und verführen zu unnötigen Behandlungen. Das ist fast schon eine Anleitung zum Betrug. Weit sinnvoller wären Tagespauschalen mit den Abstufungen leicht, mittel, schwer.
Gibt es Forderungen, die schon etwas ausgelöst haben?
Im Kanton Zürich befasst sich das Parlament auf unsere Initiative hin mit der Schaffung einer unabhängigen Ombudsstelle für das Gesundheitswesen, an die sich Patient:innen, Angehörige und neu auch Mitarbeitende wenden können. Das Gesundheitswesen gehört uns allen. Wir alle, in welcher Rolle auch immer, sind verantwortlich dafür, missbräuchliches Verhalten zu verhindern. Auch bei der Adminimierung*, einem weiteren Kernanliegen, geht einiges.
Adminimierung?
So nennen wir die gezielte Reduktion administrativer Tätigkeiten in Spitälern, um mehr Zeit für Begleitung und Betreuung der Patient:innen zu gewinnen. Jede einzelne Handreichung zu dokumentieren, ist absurd! Brida von Castelberg, die frühere Chefärztin der Frauenklinik des Zürcher Triemlispitals, und ich haben dazu eine interprofessionelle Arbeitsgruppe mit Teilnehmenden aus fünf Kantonen und Institutionen initiiert.
Wo sehen Sie da sinnvolle Ansätze?
Zuerst gilt es, eine Übersicht zu schaffen. Wo gibt es Doppelspurigkeiten, wo werden nutzlose Dokumente angefordert? Vom Bundesamt für Gesundheit gibt es noch keine Analyse. Wir haben aber kürzlich in einem sehr produktiven Gespräch die Zusage erhalten, dass eine Analyse initiiert wird. Danach ginge es darum, die Folgerungen in der Praxis zu erproben. Wir hoffen da auch auf finanzielle Unterstützung durch den Experimentierartikel zur Förderung kostendämpfender Projekte, der 2021 im KVG eingeführt wurde.
2017 eröffnete die Akademie in Zürich das erste «amm Café Med». Was ist die Grundidee?
Es geht darum, dass ein Team aus Ärzt:innen und weiteren Fachpersonen in einem Café Patient:innen sowie Angehörige bei medizinischen Entscheidungen kostenlos unterstützt. Alle medizinischen Fragen können unkompliziert im Café besprochen werden. So auch bei anstehenden Operationen, diagnostischen Massnahmen oder Medikationen. Inzwischen sind wir in neun Städten präsent, in Zürich im Café Neumärt. Viele Ratsuchende sind zu Recht verunsichert – auch aus dem Wissen heraus, dass in unserem Gesundheitssystem vieles angeboten wird, das nicht wirklich nötig ist. In der Schweiz sind wir zum Beispiel europaweit Spitzenreiter bei Hüft- und Knieoperationen. Immer wieder geht es im Café Med zudem um den Umgang mit dem Kranksein an sich.
Wie reagieren in Praxen tätige Ärzt:innen darauf?
Spürbaren Gegenwind haben wir nicht. Wir sind ja eine Ergänzung. Zudem kann man mit dem gleichen Anliegen nur einmal zu uns kommen. Es ist ein niederschwelliges Angebot. Im Café können wir keine Untersuchungen und damit auch keine Zweitmeinungen anbieten. Ziel ist vielmehr, dass die Ratsuchenden basierend auf dem persönlichen Gespräch die für sie richtige Entscheidung treffen können. Daraus hat sich zusätzlich das Angebot für eine einmalige Begleitung zum Arzt ergeben.
Annina Hess-Cabalzar (73) ist Präsidentin der Akademie Menschenmedizin (amm). Das Manifest, der Link zur Videokampagne «Patientenverantwortung» sowie Angaben zu den Café-Med-Angeboten finden sich unter menschenmedizin.ch.
* Korrigenda vom 22. November 2024: In der gedruckten Ausgabe sowie in der ursprünglichen Onlineversion hiess es fälschlicherweise Adminierung.