Durch den Monat mit Annina Hess-Cabalzar (Teil 4): Was bewirken Fallpauschalen auf einer Palliativstation?

Nr. 48 –

Was die Präsidentin der Akademie Menschenmedizin unter einer menschengerechten medizinischen Grundversorgung von der Wiege bis zur Bahre versteht. Und welche Erkenntnisse sie aus ihrer psychotherapeutischen Arbeit im Palliativbereich zieht.

Annina Hess-Cabalzar
«Den Sterbeprozess zu pauschalisieren, ist widersinnig»: Annina Hess-Cabalzar.

WOZ: Frau Hess-Cabalzar, wie konnte das Konzept einer umfassenden, menschengerechten medizinischen Grundversorgung im Spital Affoltern realisiert werden?

Annina Hess-Cabalzar: Voraussetzung war das explizit formulierte Menschenbild und daraus folgend die Akzeptanz der Strategie in allen Führungsgremien. Zuerst richteten wir – zusätzlich zu Innerer Medizin, Gynäkologie/Geburtshilfe, Chirurgie und Geriatrie – eine gemeindenahe Psychiatrie ein. Dann bauten wir die Chefarztvilla zu einer Palliativabteilung um. Schliesslich erhielten wir zu meiner besonderen Freude auch den Leistungsauftrag für die erweiterte Mutter-Kind-Abteilung. So konnten wir Mütter, die nach der Geburt in eine Krise gerieten, mit ihren Säuglingen oder psychisch erkrankte Mütter mit bis zu vierjährigen Kindern aufnehmen.

Speziell am Konzept der Menschenmedizin ist, dass die Psychotherapie in allen Spitalbereichen integriert ist. Warum hat sich das nicht auch in anderen Spitälern etabliert?

Weil die Zeit, die es für eine umfassende Behandlung und Begleitung des Menschen braucht, nicht ins Schema dieses Gesundheitssystems passt. Seit 2012 verhindern diagnosebezogene Fallpauschalen (DRG) solche Behandlungen. Als wir von der Akademie Menschenmedizin im Vorfeld dagegen opponierten, hiess es von den Zuständigen der Swiss DRG AG, die dieses Finanzierungsmodell entwickelte: Im palliativen und psychiatrischen Bereich werden keine und in der Kindermedizin nur begrenzt DRGs eingeführt – versprochen. Und dann haben sie diese trotzdem auch in diesen Bereichen eingeführt.

Mit welchen Folgen?

In der Psychiatrie muss man gleich beim Eintritt eines Patienten eine Diagnose stellen. Als ginge es um einen simplen Knochenbruch. Und in der Palliativabteilung, wenn der Mensch nicht DRG-konform innert drei Wochen stirbt, nach 21 Tagen eine Kostengutsprache mit medizinischer Begründung für eine Verlängerung beantragen. Den Sterbeprozess so zu pauschalisieren, ist widersinnig. Aufgrund des administrativen Mehraufwands geht für die Betreuung der Patient:innen und ihrer Angehörigen viel Zeit verloren. Dabei wäre ja die Kernaufgabe, die Lebensqualität der Patient:innen bis zum Schluss so gut wie möglich zu erhalten.

Was gilt es da speziell zu beachten?

Ganz wichtig ist, dass beteiligte Fachpersonen darin geschult werden, nicht zu sehr aus eigenen Vorstellungen heraus zu handeln.

Wie meinen Sie das?

Es geht darum herauszufinden, was für Werte und Bedürfnisse der Patientin für die verbleibende Zeit wichtig sind – und nicht mir als Fachperson. Das bedingt, dass ich mich auch mit meinen eigenen Vorstellungen auseinandersetze; nur so kann ich mich von ihnen distanzieren. Angenommen, ich wäre der Meinung, Musik von Mozart sei heilsam, kann ich das als Privatperson ja meinen. Das heisst aber nicht, dass Mozart auch dem Patienten guttun muss. Alle Fachpersonen müssen eigene Vorstellungen hinter sich lassen, sobald sie ein Patient:innenzimmer betreten. Sie sollten auch die Phasen des Abschieds kennen, wobei die einzelnen Schritte natürlich nicht immer gleich und in derselben Reihenfolge verlaufen.

Welche Schritte?

Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat das so beschrieben: Auf die Phase des Nichtwahrhabenwollens folgt die Wut; als Nächstes die Verhandlung darüber, was man noch machen und regeln will – und schliesslich, früher oder später, die Akzeptanz. Auch den Patient:innen Nahestehende machen diese Phasen durch. Manche meinen auch, man müsse mit der Patientin noch alles Mögliche nachholen – auch wenn deren Kräfte das nicht mehr zulassen. Dabei spielen immer wieder romantisierte Vorstellungen mit: etwa dass der Patient mit allem versöhnt sterben sollte. Meiner Ansicht nach muss das nicht unbedingt sein. Der Tod ist nichts Romantisches.

Sondern?

Eigentlich ist es einfach: Wir trudeln irgendwie in diese Welt, in irgendeine Situation. Und haben dann eine ungewisse Zeit zum Herumdümpeln – mit einer gewissen Freiheit, dieses Leben zu gestalten. Wie verbringen wir jetzt diese Zeitspanne? Und wie begegnen wir am Ende unserem Tod? Es ist immer wieder bemerkenswert, wie religiöse Prägungen mitwirken – selbst bei Menschen, die sich als unreligiös bezeichnen.

Wie zum Beispiel?

Etwa wenn sich jemand plötzlich fragt: Kommt es im Danach doch noch zu einer Gerichtssituation? Gerade bei Patient:innen, die sich vorher nie näher mit dem Tod befassten, können längst überwunden geglaubte Ängste auftauchen. Da wird jeweils deutlich, wie schambesetzt das Thema bei vielen ist. Sich schon im gesunden Leben mit Vorstellungen über das Danach befasst zu haben, auch mit Erzählungen verschiedener Religionen und Kulturen, kann hilfreich sein. Es geht um ein kulturelles Know-how. Wenn ich auf eine Reise gehe, überlege ich mir ja auch, was ich mitnehme.

Annina Hess-Cabalzar (73) war bis 2012 Mitglied der Spitalleitung in Affoltern am Albis. Als Leiterin der Psychotherapie war sie auf sämtlichen Abteilungen therapeutisch tätig. Heute präsidiert sie die von ihr initiierte Akademie Menschenmedizin.