Durch den Monat mit Annina Hess-Cabalzar (Teil 2): Worauf stützt sich das Konzept der Menschenmedizin?
Wie die Psychotherapeutin und ihr Mann in Affoltern am Albis den Ort fanden, um ihre Vision einer menschenwürdigen Gesundheitsversorgung umzusetzen. Und wozu es im Spital einen Philosophen braucht.

WOZ: Frau Hess-Cabalzar, letzte Woche erzählten Sie, wie Sie Ihr Jusstudium abgebrochen haben. Was war Ihre nächste Station?
Annina Hess-Cabalzar: Ich wurde Primarlehrerin. Da konnte ich meinen Wunsch, Menschen beizustehen, direkt umsetzen. Das Verstehen und die Förderung jedes einzelnen Kindes waren mir ein grosses Anliegen. 1981 bekamen mein Mann und ich die Möglichkeit, für zwei Jahre in Tansania zu arbeiten. Christian war in einem Spital als Internist und Ausbildner für medizinische Assistent:innen tätig.
Und Sie?
Ich unterrichtete in der lokalen Schule, initiierte Kunstprojekte und interviewte für ein Forschungsprojekt Mütter zu Gesundheitsfragen. Besonders durch die Geburt unserer Tochter im lokalen Spital kam ich sehr unmittelbar mit dem dortigen Alltag in Berührung.
Wie fühlte sich da die Rückkehr an?
Schwieriger als erwartet. Mehl, Zucker, Butter, Milch – alles war wieder vorhanden, im Überfluss. Wie damit umgehen? Auch in der Rolle als Mutter musste ich mich neu zurechtfinden. Gleichzeitig arbeitete ich als Beraterin von Asylsuchenden – als Hilfswerksvertreterin in Bern und als Mitinitiatorin der «Asylbrücke» in Zug. Das Gesundheitswesen rückte erst 1985 ins Zentrum. Da hat sich alles irgendwie gefunden.
Wie denn?
Es gibt doch Ereignisse im Leben, die sich ergeben, als ob alles ohne unser Wissen schon geplant gewesen wäre: Kaum waren wir ins Zürcher Knonauer Amt gezogen, wurde Christian, der im Kantonsspital Zug arbeitete, vom dortigen Spital Affoltern angefragt, dessen Ko-Chef zu werden. Anderthalb Jahre später, nach dem plötzlichen Tod des Chefarztes, wurde er zu dessen Nachfolger gewählt. Seit dem Studium trieb ihn die Frage nach dem Menschenbild um, das einem menschenwürdigen Gesundheitswesen zugrunde liegen sollte. Das Spital Affoltern erwies sich als ideales «Labor» zur Umsetzung einer menschenwürdigen, integrierten Versorgung.
Was genau meinen Sie mit «integriert»?
Grundlegend geht es um das Verständnis, dass Körper, Seele und Geist im menschlichen Leben untrennbar miteinander verbunden sind. Unsere Folgerung war, dass es ein breites interprofessionelles Angebot braucht, also auch psychotherapeutische und weitere geisteswissenschaftliche Bereiche in die medizinische Grundversorgung integriert sind. Ich selbst hatte da bereits mit der Ausbildung in kunstorientierter Psychotherapie begonnen. In Affoltern am Albis arbeitete ich zunächst als Pflegehilfe und begann 1992 als Psychotherapeutin auf allen Abteilungen, später war ich auch in der Spitalleitung. Das Konzept unter dem Begriff der Menschenmedizin entwickelte sich im Lauf der Jahre.
Wie soll man sich diesen Prozess vorstellen?
Zuerst mussten sich Spital- und Betriebsleitung auf das allem Handeln zugrunde gelegte Menschenbild einigen. Implizit ist ja überall eines vorhanden. Im gegenwärtigen Gesundheitssystem ist es ein kommerzielles – nur dass es nicht benannt wird. Uns war klar: Das Menschenbild, das unser Handeln bestimmt, muss explizit sein. Für die fortlaufende begriffliche Klärung engagierten wir während zehn Jahren einen Philosophen, der die ganze Belegschaft jeweils zwei Wochen pro Jahr begleitete.
Welche weiteren Grundsätze gehören zu diesem Konzept?
Ein wichtiger Punkt ist das, was wir das philosophische Gesetz der Polarität nennen. Ausgehend davon, dass sich Gesundheit indirekt über die Abwesenheit von Krankheit definiert und diese sich als ein Zustand der fehlenden Ganzheit darstellt, ist der vordergründige Gegensatz von Gesundheit und Krankheit irreführend. Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch.
Wie zeigt sich das konkret?
Indem jemand zum Beispiel körperlich sehr krank, im Umgang damit aber sehr gesund sein kann. Umgekehrt wiederum kann jemand eine Operation als gravierende Lebensveränderung erfahren, auch wenn sie rein medizinisch gelungen ist. Dann kann man nicht einfach sagen: Jetzt bist du geflickt – ab nach Hause. Ein weiterer Grundsatz betrifft den Umgang mit Grenzen: des Lebens, des Machbaren und des Wissens.
Wie spielt da die Idee der Interprofessionalität mit?
In dem Sinn, dass jede Disziplin weiss, wofür sie zuständig ist – und wofür nicht. Wo hört die Kompetenz des Chirurgen auf und beginnt die der Psychotherapeutin? Wo endet die Kompetenz der Therapeutin – und beginnt jene des Theologen? Solche Klärungen sind elementar. Zwei Jahre nach Einführung der Psychotherapie am Spital in Affoltern sagte mir ein Chirurg, jetzt getraue er sich endlich, Patient:innen umfassende Fragen nach ihrer Befindlichkeit zu stellen. Wenn nötig könne er sagen: Gerne stelle ich Ihnen eine Kollegin vor, die dafür die Zeit und das Können hat.
Annina Hess-Cabalzar (73) ist Präsidentin der Akademie Menschenmedizin (amm). 2006 erschien im Suhrkamp-Verlag ihr mit Christian Hess verfasstes Buch «Menschenmedizin. Für eine kluge Heilkunst».