Demokratiedefizit: Der Tunnel, der Millionärsklub und sein Ständerat
In Rapperswil-Jona heckt eine kleine Gruppe von Millionär:innen eine eigene Variante für ein milliardenschweres Verkehrsprojekt aus – und Mitte-Ständerat Benedikt Würth macht mit.
Das Wassertaxi nähert sich langsam der Kempratner Bucht. Eingehüllt in kühles Novembergrau, hat sie etwas Malerisches. Lässt man den Blick vom Boot aus ans Seeufer schweifen, sind hinter Schilf und Trauerweiden stattliche Villen und sauber gestutzte Rasenflächen erkennbar. Etwa jene von Thomas Schmidheiny, dem grössten Aktionär des Zementriesen Holcim, dessen Vermögen das Wirtschaftsmagazin «Forbes» auf derzeit 7,7 Milliarden US-Dollar schätzt. Wenige Hundert Meter entfernt ist eine der bekanntesten Baustellen der Schweiz zu sehen: Tennisstar Roger Federer lässt hier sein Siebzig-Millionen-Franken-Anwesen errichten. «Millionärshügel» heisst Kempraten im Volksmund wegen der vielen Villen unten am See und oben am Hang zwischen den Weinbergen.
Nur etwa eineinhalb Kilometer weiter südlich schieben sich derweil täglich rund 26 500 Fahrzeuge über die Untere Bahnhofstrasse direkt am Stadtkern von Rapperswil vorbei – fast 10 000 mehr als am Gotthard. Das macht die Strasse zur meistbefahrenen im Kanton St. Gallen. Vor gut einem Jahr sprach sich die Rapperswiler Stimmbevölkerung deshalb für einen Entlastungstunnel aus. Doch weil eine Einfahrt bei Kempraten liegen soll, regt sich Widerstand auf dem Millionärshügel. Diskret, das zeigen Recherchen der WOZ, versuchen die Superreichen, den Volksentscheid zu hintertreiben.
Kempraten gehört zur Gemeinde Rapperswil-Jona, und diese sorgt politisch immer wieder für Schlagzeilen. Denn mit seinen knapp 30 000 Einwohner:innen ist Rapperswil die grösste Schweizer Stadt ohne eigenes Parlament – entsprechend mangelt es an demokratischer Kontrolle, was die politischen Prozesse anfällig für die Einflussnahme Einzelner macht. Etwa durch den Verleger Bruno Hug, der einst den Stadtpräsidenten Martin Stöckling mit ins Amt hob. Inzwischen hat er sich aber mit diesem zerstritten, nun will er ihn durch die parteilose, SVP-nahe Barbara Dillier ersetzen. Am 24. November findet der zweite Wahlgang statt, und Dillier aus dem Zürcher Oberland hat beste Chancen, neue Stadtpräsidentin zu werden. Zweimal hat Hug mit seinen aggressiven Medien – früher die «Obersee Nachrichten», heute das Nachrichtenportal «linth 24» – auch verhindert, dass Rapperswil endlich ein Parlament erhält, zuletzt im März vergangenen Jahres.
Über den schillernden Hug sind schon zahlreiche Porträts erschienen. Dabei wird gerne übersehen, dass er längst nicht der grösste und glitschigste Fisch im trüben Rapperswiler Politbiotop ist. Auch andere nutzen die fehlende Kontrolle, um ihren Einfluss geltend zu machen: so etwa der frühere Stadtpräsident und heutige Mitte-Ständerat Benedikt Würth oder der Multimilliardär Thomas Schmidheiny. Beispielhaft zeigt dies der geplante Bau des Stadttunnels.
Ein zur Hälfte runder Tisch
Die Bevölkerung von Rapperswil-Jona ringt schon länger um eine Lösung. 2011 ist ein Projekt für einen Stadttunnel, der den Verkehr unter die Erde hätte verfrachten sollen, an der Urne gescheitert. Letztes Jahr folgte der zweite Versuch: Am 10. September 2023 sprach sich die Stadtbevölkerung für eine Weiterführung der Planung eines Stadttunnels aus, SP und Grüne und der Verkehrsclub VCS wehrten sich vergeblich dagegen. Bei einer Konsultativfrage zu zwei Varianten der Tunnelführung entschieden sich die Stimmberechtigten mit deutlich mehr als siebzig Prozent der Stimmen für die sogenannte Variante Mitte: einen langen, S-förmigen Tunnel, der vom Seedamm bis zur A15 führen soll, die nördlich der Stadt verläuft. Die Variante soll zwei Anschlüsse haben, einen im Stadtzentrum beim Tüchelweiher – und einen im Villenviertel Kempraten.
Die Abstimmung sorgte für Missmut beim Kanton St. Gallen: Bauvorsteherin Susanne Hartmann von der Mitte-Partei erklärte danach, das Ergebnis sei für den Kanton, der den Bau des Tunnels mit Kosten von geschätzt einer Milliarde Franken zu finanzieren hätte, nicht bindend. Der Kanton erwarte zuerst ein Gesamtverkehrskonzept für Rapperswil-Jona. Danach wurde es in der Öffentlichkeit still um den Stadttunnel. Hinter den Kulissen ging die Arbeit allerdings weiter, eine neue Linienführung kam ins Spiel. Ausgeheckt wurde sie an einem «runden Tisch». Rund war er allerdings nur zur Hälfte, weil nur die Tunnelbefürworter:innen teilnahmen. Das Treffen fand im Januar im Haus eines ehemaligen Spitzenkaders der Beratungsfirma McKinsey in Kempraten statt.
Im Protokoll, das die Anwesenden der WOZ auf Nachfrage zugestellt haben, fallen zwei Dinge auf: Zum einen scheinen die elf Teilnehmer:innen gut betucht zu sein, zum anderen wohnen praktisch alle in Kempraten. So etwa zwei reiche Unternehmer:innen, von denen eine gemäss Wirtschaftsmagazin «Bilanz» über ein Vermögen von knapp einer Viertelmilliarde Franken verfügt. Am Treffen nahmen auch Mitte-Ständerat Benedikt Würth und FDP-Nationalrat Marcel Dobler teil, auch er Multimillionär und ebenfalls wohnhaft in Kempraten. Mit von der Partie war auch Verleger Bruno Hug. Entschuldigen liess sich gemäss Protokoll Thomas Schmidheiny.
Die am «runden Tisch» beschlossene neue Linienführung verliefe ähnlich wie die Variante Mitte. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Ausfahrt würde über einen unter dem Villenviertel hindurchführenden Anschlusstunnel im «Bereich Gubel oder gleich nach der Kantonsgrenze» zu liegen kommen, also ein bis zwei Kilometer weiter westlich. Der Anschluss in Kempraten «mit seinen vielen Betroffenheiten», wie die Eigeninteressen im Protokoll verklausuliert genannt werden, würde entfallen. So bliebe den Bewohner:innen des Millionärshügels der befürchtete Mehrverkehr erspart.
Anspruch, kontaktiert zu werden
Beim Kanton St. Gallen sprach nach dem Treffen nun aber nicht der «runde Tisch» vor – sondern ein Verein namens «Verkehrsentlastung Rapperswil-Jona» (Verj), der als Vehikel der Forderungen dient. Die Funktion und die Organisation des Vereins, in dem die bürgerlichen Parteien schon früher ihre Verkehrspolitik koordinierten, werden im Protokoll der Kempratner Zusammenkunft ausführlich beschrieben. So «erwartet» Verj von Stadt und Kanton, als begleitendes Organ bei den massgeblichen Entwicklungsschritten kontaktiert zu werden. Präsidiert wird der Verein neu vom Mitte-Präsidenten von Rapperswil-Jona – und von der ehemaligen SRF-Wirtschaftsjournalistin und heutigen PR-Beraterin der Dynamics Group Marianne Fassbind, die auch in Kempraten wohnt. Die Anwesenden am Treffen, also die Politiker und die Villenbesitzer:innen, sollen wiederum einen Beirat von Verj bilden.
Der Kanton St. Gallen bestätigt auf Anfrage, dass er «eine mögliche weitere Variante auf einer sehr hohen Flughöhe» prüft. Das sei grundsätzlich nichts Ungewöhnliches, erklärt Kantonsingenieur Marcel John, der das Stadttunnelprojekt seit 2011 begleitet. Man habe für alle Vorschläge ein offenes Ohr. Würde man sie einfach ignorieren, führe dies zu einem späteren Zeitpunkt mit Sicherheit zu Kritik. Kantonsingenieur John sagt weiter, zurzeit handle es sich beim Vorschlag von Verj nicht um eine «echte Variante». Von einer eigentlichen Machbarkeitsprüfung, die Jahre in Anspruch nehmen und Millionen von Franken kosten könnte, sei man noch sehr weit entfernt.
Allerdings zeigt ein Dokument des Kantons, das der WOZ vorliegt, dass die Behörden die Forderungen des Vereins durchaus ernst nehmen. So kam es Ende Mai zu einer Sitzung zwischen Vertreter:innen der Stadt Rapperswil-Jona und dem Kanton St. Gallen. Mit dabei waren Baudepartementsvorsteherin Susanne Hartmann und Stadtpräsident Martin Stöckling. Im Dokument ist nebst Abbildungen der diversen möglichen Varianten auch ein «mögliches Ergebnis einer Kostenwirksamkeit-Analyse» abgebildet. Einerseits würde mit einer vertieften Prüfung des Vorschlags Verj der «Volksentscheid in Frage gestellt», andererseits die Anliegen von Verj «ernst genommen». Der Verein habe bereits Opposition gegen die Variante Mitte angemeldet, heisst es weiter: «Wie gehen Stadt und Kanton damit um? Können sich Stadt und Kanton diesen ‹Gegenwind› leisten?»
Alles völlig unbedenklich?
Dass man insbesondere Thomas Schmidheiny ernst nimmt, bestätigt der Kanton gleich selbst: So hat sich Baudirektorin Susanne Hartmann im Mai 2023 persönlich mit ihm getroffen. Es habe sich dabei «um einen generellen Austausch zu den Rapperswil-Joner Verkehrsproblemen» gehandelt, lässt sie mitteilen. Das Baudepartement betont, dass das Treffen vor der Konsultativabstimmung über die Varianten stattgefunden habe. Dennoch bleibt die Frage, warum Schmidheiny einen privilegierten Zugang zur zuständigen Regierungsrätin geniesst.
Von einem Tunnelanschluss in Kempraten wäre Schmidheiny auf jeden Fall persönlich betroffen. Für die Teilnahme am «runden Tisch» liess er sich zwar entschuldigen. Wie Ständerat Benedikt Würth aber auf Anfrage bestätigt, hat er sich mit ihm über den Tunnel ausgetauscht. Nationalrat Marcel Dobler wiederum sagt, dass es wichtig sei, jemanden wie Schmidheiny bei einem solchen Projekt wie dem Stadttunnel dabeizuhaben. «Würde er sich dagegenstellen, erschwerte das die Realisierung natürlich erheblich.»
Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Schmidheiny, der auch einer der grössten privaten Gönner der FDP Schweiz ist, in die Lokalpolitik einmischt. So war es zu grossen Teilen Schmidheinys Verdienst, dass der Stadttunnel im Jahr 2011 abgelehnt wurde, der schon damals nach Kempraten führen sollte. Die finanzielle Unterstützung sei entscheidend gewesen, sagt Urs Bernhardsgrütter, der das Nein-Lager damals anführte. «Sonst hätten wir die Abstimmung verloren.» Gemeinsam mit Bruno Hug bekämpfte Schmidheiny diesen September auch das neue Frei- und Hallenbad Lido in Rapperswil, über das zeitgleich mit der Stadtpräsidiumswahl abgestimmt wurde. Die Kampagne diente auch zur Fundamentalkritik an der Amtsführung von Martin Stöckling.
Bleiben die Details von Schmidheinys Rolle bei der Planung offen, so ist die von Benedikt Würth klar. Er nahm nicht nur am Kempratner Treffen teil, sondern hat auch mit dem von Stadt und Kanton für die Tunnelabklärungen eingesetzten Bauingenieur Thomas Kieliger «technische Fragen» besprochen, wie Würth auf Anfrage selbst erzählt. Der zuständige Kantonsingenieur Marcel John wusste nichts von diesem Treffen. Im scharfen Kontrast zu Würths Tätigkeiten stehen seine öffentlichen Äusserungen. Bei seinem Rücktritt als Stadtpräsident 2011 sagte er, sich aus der Lokalpolitik heraushalten zu wollen. Er gab nur ein Interview vor der Tunnelabstimmung. Danach, sagte Würth der «Linth-Zeitung», werde er «wieder still sein und mich zu kommunalen Fragen nicht mehr äussern».
Ein Ständerat, der sich entgegen dem Beschluss der Bevölkerung in einer Konsultativabstimmung für eine neue Linienführung für die Reichen im Ort einsetzt, der entgegen seinen öffentlichen Äusserungen weiterhin in der Kommunalpolitik mitmischt: Von aussen betrachtet, wirkt ein solches Verhalten mehr als fragwürdig. Für Benedikt Würth, sozialisiert im Rapperswiler Politbiotop, ist das alles kein Problem: «Ich bin als Bürger aktiv, dagegen ist doch nichts einzuwenden.» Er engagiere sich lediglich auf völlig unbedenkliche Weise in der Rapperswiler Verkehrspolitik, «denn ohne Verkehrsentlastung gibt es keine echte Verbesserungen für den Stadtraum und somit für die Lebensqualität». Auch habe er immer transparent gemacht, dass er dies auch als Ständerat weiterhin tun wolle. Entsprechende Belege dafür kann er auf Nachfrage keine liefern.
Für Würth scheint eine Verbesserung der Lebensqualität jedenfalls gleichbedeutend zu sein mit den Interessen eines Millionärsklubs, der in Zeiten von Klimawandel und netto null zwar für ein milliardenschweres Strassenprojekt einsteht, den dadurch entstehenden Verkehr aber nicht vor der eigenen Villaeinfahrt haben will.
Mit dem Seetaxi geht es zurück in den Hafen, denn es wird kühl in der Kempratner Bucht. Die Sonne hat es nicht durch den dichten Hochnebel geschafft. Barbara Dillier will die Namen ihrer Spender:innen nicht offenlegen. Und auch Thomas Schmidheiny schweigt bis zum Redaktionsschluss zur Frage, ob er ihren Wahlkampf finanziell unterstützt – sowie zu allen anderen ihm gestellten Fragen zum Tunnel. Stattdessen lässt er über seinen Medienbeauftragten ausrichten: «Thomas Schmidheiny hat sich immer zugunsten einer positiven Entwicklung der Gemeinde Rapperswil-Jona eingesetzt. Dies wird er auch in Zukunft so halten.»
Nachtrag vom 5. Dezember 2024: VCS verlangt Akteneinsicht
Eine kleine Gruppe Millionär:innen lobbyierte in Rapperswil-Jona für ihre eigene Variante eines milliardenschweren Verkehrsprojekts – mit tatkräftiger Unterstützung von Mitte-Ständerat Benedikt Würth (SG): Das haben Mitte November Recherchen der WOZ ergeben. Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, hat die St. Galler Sektion des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) nun Einsicht in alle Dokumente rund um die Affäre verlangt. Er empfinde es als «irritierend» festzustellen, «dass Pro-Tunnel-Vereine und Befürworter in ‹Sonder-Audienzen› und als ‹Privatpersonen› Spezialbehandlungen gewährt erhalten, während Lobbying von Parteien und Umweltverbänden wohl abgelehnt würde», schreibt der VCS in einem Schreiben an den Kanton, das der WOZ vorliegt.
Im September 2023 hatte sich die Rapperswiler Bevölkerung in einer Konsultativabstimmung klar für eine von zwei Varianten eines Stadttunnels ausgesprochen, die sogenannte Mittevariante. Diese sieht jedoch einen Anschluss im Villenviertel Kempraten vor, was den gut betuchten Anwohner:innen offenbar nicht genehm war. Trotz des demokratisch gefällten Entscheids haben sie deshalb über die Hintertür eine eigene Tunnelvariante beim Kanton ins Spiel gebracht.
Der VCS, der sich im Vorfeld der Abstimmung gegen einen Stadttunnel ausgesprochen hatte, akzeptiere den Entscheid der Urnenabstimmung, heisst es im Schreiben an den Kanton weiter. Es sei jedoch «bemerkenswert», dass von den zuständigen Ingenieur:innen des Kantons neue Ideen geprüft würden, die das Gesamtverkehrskonzept der Stadt infrage stellten. «Dieses Vorgehen erfordert eine Klärung sowie Transparenz. Wir machen uns ernsthafte Sorgen um die Verlässlichkeit der St. Galler Regierung als vertrauensvolle Planerin und im Umgang mit Volksentscheiden.» Um das Vertrauen der Bürger:innen wiederherzustellen und Lösungen für die Verkehrsprobleme in Rapperswil-Jona zu finden, müssten nun auch inoffizielle Dokumente transparent einsehbar sein, so der VCS.