Rassistische Polizeigewalt: «Die erste Linie der Verteidigung»

Nr. 49 –

Die Waadtländer Staatsanwaltschaft hat das Verfahren im Fall Nzoy eingestellt – und die beteiligten Polizist:innen entlastet. Ein fragwürdiger Entscheid, sagt Menschenrechtsanwalt Philip Stolkin. Er fordert eine Reform des Strafsystems.

Portraitfoto von Philip Stolkin
Philip Stolkin, Anwalt

WOZ: Herr Stolkin, im August 2021 ist Roger «Nzoy» Wilhelm am Bahnhof von Morges von einem Polizisten getötet worden. Die Waadtländer Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen die am Einsatz beteiligten Beamt:innen nun eingestellt. Wie beurteilen Sie das?

Philip Stolkin: Der Entscheid ist nur schon in formaler Hinsicht äusserst fragwürdig. Ein Staatsanwalt muss im Sinne des Grundsatzes «In dubio pro duriore» handeln. Heisst: Er muss die Fakten aufarbeiten, damit die Gerichte dann über den Fall urteilen können. Einstellen darf er ein Verfahren nur, wenn ganz klar erstellt ist, dass am Tatvorwurf nichts dran ist; wenn etwa ein Beschuldigter nachweislich gar nicht am Tatort gewesen ist. Der Waadtländer Staatsanwalt begründet seine Einstellung mit seitenlangen rechtlichen Abwägungen. Er überschreitet damit seine Kompetenzen, nimmt die Arbeit der Gerichte vorweg. Für mich ist das ganz klar ein Zeichen dafür, dass er diesen Prozess nicht will, weil er nicht zu seiner Rechtsauffassung passt.

Der Fall Nzoy hat schweizweit Proteste ausgelöst, weil er von Aktivist:innen als krasser Fall von rassistischer Polizeigewalt wahrgenommen wird. Der Staatsanwalt sagt nun: Die Polizei handelte aus Notwehr. Halten Sie das für glaubwürdig?

Nzoy hatte ein Messer in der Hand, als der Polizist die Schüsse abgab, und er ging schnell auf ihn zu, das muss man anerkennen. Aber eine klare Notwehrsituation ist für mich nicht zu erkennen. In dem Moment, wo Nzoy sich nähert, tut er das nicht in klarer Angriffshaltung, das ist auf Videoaufnahmen zu sehen. Er hält das Messer in der linken Hand, es ist gegen den Boden gerichtet. Zudem schaut er den Polizisten, der dann schiesst, nicht an und rennt auch nicht direkt auf ihn zu. Sein seitliches Fortbewegen sieht für mich so aus, als würde er vielleicht auch einfach an ihm vorbeirennen wollen. Ohnehin würde ich als Staatsanwalt bei der Frage der Notwehr schon viel früher ansetzen: Nzoy war psychisch angeschlagen, man hätte daher ganz anders deeskalieren, eine psychiatrisch geschulte Person einsetzen müssen, was nicht geschehen ist. Mithin hat die Polizei die Situation selbst verschuldet, weil sich Nzoy bedroht gefühlt hat. Auch deshalb finde ich es schwierig, von Notwehr auszugehen.

Struktureller Rassismus ist im Einzelfall schwer nachzuweisen. Im Fall Nzoy legt die Summe allen Handelns nah, dass seine Hautfarbe ein entscheidender Faktor war. Es waren vier Polizist:innen vor Ort – trotzdem schoss einer von ihnen gleich dreimal, und das auf den Torso. Und als Nzoy auf dem Boden lag, leisteten die Beamt:innen minutenlang keine erste Hilfe, sondern legten ihm stattdessen Handschellen an. Man bekommt beim Studieren der Akten das Gefühl, die Polizist:innen stellten in jenem Moment ihre eigene gefühlte Bedrohung über das Leben des Getöteten.

Warum haben sie nicht den Haltegriff angewendet? Oder versucht, Nzoy ein Bein zu stellen? Warum schiesst ihm der Polizist mehrfach in den Bauch, obwohl er weiss, dass dies tödlich ist? Warum leisteten die Beamten keine Erste Hilfe? In der Summe zeugt all dies von einer grossen Aggressivität. Sie fühlten sich offenbar auch dann noch übermässig von Nzoy bedroht, als er bereits getroffen auf dem Boden lag. Die naheliegendste Erklärung dafür sind rassistische Stereotype. Berücksichtigt man dann noch die Tatsache, dass im Kanton Waadt in den letzten Jahren mehrere Schwarze Männer bei Polizeieinsätzen ums Leben gekommen sind, wird umso deutlicher, dass der Rechtsstaat dringend Aufarbeitung leisten muss.

Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur das Verfahren wegen vorsätzlicher Tötung eingestellt, sondern trat auch nicht auf den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung ein. Sie begründet dies einerseits damit, dass die Beamt:innen ja die Ambulanz gerufen hätten. Argumentiert wird aber auch: Nzoys Tod sei innert weniger Minuten eingetreten. Weil sein Leben demnach nicht zu retten gewesen sei, könne man den Angeschuldigten auch nicht unterlassene Hilfeleistung vorwerfen. Ist dies eine zulässige Argumentation?

Nein, das ist falsch. Wenn objektive Gründe für eine Gefährdung des Lebens bestehen, musst du gemäss Artikel 128 Strafgesetzbuch immer handeln.

Die Polizist:innen konnten in dem Moment gar nicht wissen, ob Nzoys Leben zu retten gewesen wäre.

Ja, und sie hätten es auf jeden Fall versuchen müssen. Dazu kommt, dass sie als Vertreter:innen des Staates handelten, und dieser hat gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern eine besondere Schutzverpflichtung.

Zusammenfassend: Beantwortet die Untersuchung die Frage, ob der Einsatz der Polizei an diesem verhängnisvollen Tag verhältnismässig war?

Für mich ist diese Untersuchung Ausdruck einer fortgesetzten Menschenverachtung. Als Nzoy auf dem Perron verblutete, kamen die Beschuldigten auf keine bessere Idee, als ihm Handschellen anzulegen. Der Staatsanwalt hat nun die grandiose Idee, sie vorsorglich freizusprechen. Wir sprechen hier übrigens vom selben Staatsanwalt, der im Fall Mike Ben Peter eine hinterlistige Kehrtwende hingelegt hat (Anm. d. Red.: Mike Ben Peter starb 2018 bei einem Polizeieinsatz in Lausanne, bei dem Polizisten minutenlang auf seinem Rücken knieten). Da hat er zwar Anklage erhoben, plädierte während des Prozesses aber plötzlich auf Freispruch – ein extrem unübliches Vorgehen. Rechtlich blamiert sich der Staatsanwalt in diesen Fällen unfassbar. Aber sein Vorgehen zeigt eben: Sitzt die Polizei auf der Anklagebank, ist die Staatsanwaltschaft die erste Linie der Verteidigung.

Der Fall Nzoy ist ein weiterer Fall, wo Polizist:innen nach der Tötung einer Schwarzen Person von jeglicher Schuld freigesprochen werden. Welchen Reformbedarf im Strafsystem zeigen die Fälle für Sie auf?

Die Staatsanwaltschaft ist der Polizei übergeordnet, arbeitet jeden Tag mit der Polizei zusammen. Sauber wäre es abgelaufen, wenn eine unabhängige Instanz, eine Staatsanwaltschaft aus einem anderen Kanton zum Beispiel, die Untersuchungen übernommen hätte. So lautet auch die Empfehlung des EGMR, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Aber in der Schweiz können die Kantone nach Gutdünken verfahren. Und oft hat die Staatsanwaltschaft kein Interesse daran, ihre Ordnungskräfte einer externen Untersuchung auszusetzen. Wirklich unabhängige Untersuchungen sind so nicht möglich, wofür die Schweiz vom EGMR auch schon gerügt wurde.

Wie geht es für die Kläger:innen nun weiter? Was sind die nächsten Schritte?

Den Einstellungsentscheid kann man nicht ernst nehmen. Dagegen wird die Klägerseite nun am Kantonsgericht Beschwerde einreichen. Sollte das Kantonsgericht diese abweisen, kann der Fall ans Bundesgericht weitergezogen werden, das dann überprüft, ob es bei diesem Fall zu Rechtsverletzungen gekommen ist – wovon auszugehen ist. Sollte das Bundesgericht zu einem anderen Schluss kommen, wird sich der Fall Nzoy in Strassburg entscheiden.

Philip Stolkin ist einer der profiliertesten Menschenrechtsanwälte der Schweiz. Er gehört der unabhängigen «Nzoy Commission» an, die sich für ein faires Verfahren im Fall Nzoy einsetzt.