Literatur: Wegschauen war die Devise

Seit den späten 1920er Jahren wirkte Carlo Levi als Antifaschist gegen Mussolini. Als der jüdisch-italienische Mediziner, Maler und Schriftsteller dreizehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg durch Deutschland reist, sieht er «ein verwundetes Land, ohne Autonomie, ein gekränktes Land, von sich selbst mehr als von anderen: ein Land, das die Augen verschliesst, beharrlich verschliesst». Levi fährt 1958 nach München und Dachau; über Augsburg, Stuttgart und weitere Städte führt ihn sein Weg schliesslich nach Berlin, wo er auch den Ostteil besucht.
Levi spürt der Mentalität des Landes mit seiner jungen Demokratie (im Westteil) nach, beschreibt minutiös und eindrücklich den wegschauenden Deutschen, der einfach weitermacht. Gleich zu Beginn, in der Gaststätte Donisl in München, trifft er auf Frida, die von den Tätern in ihrer Familie erzählt und Levi mit auf den Weg gibt, in Deutschland niemandem über den Weg zu trauen: «Unvermittelt raunt sie mir zu: ‹Alles Deutsche ist nichts weiter als Hass›, und blickt auf ihren Bierkrug. ‹Glauben Sie nicht, was Sie sehen!›, fährt sie fort. ‹Alle haben ein Lächeln auf den Lippen, aber es gibt hier nur Hass.›»
Carlo Levi fängt diese unbehagliche Stimmung und das verbreitete Schweigen eindrücklich ein. Sein Buch, dem er in Anlehnung an einen Vers aus «Faust II» den Titel «Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958» gab, ist sprachlich hochstehendes Feuilleton alter Schule, eine Mischung aus Betrachtung und Beobachtung mit politischen Zwischentönen. Levi besucht in Dachau die Orte des Mordens, beschreibt den Clash der Welten in Berlin. Dort pinkelt er auch gegen ein Haus, von dem man ihm sagt, es sei das «Haus von Göring» gewesen.
Bislang war Carlo Levi vor allem für sein Werk «Christus kam nur bis Eboli» (1947) bekannt, in dem er von seiner Verbannung durch das Mussolini-Regime nach Süditalien erzählt. Seine «Deutschlandreise» ist eine Wiederentdeckung, in der man fast alles erfährt, was man über Post-Nazideutschland wissen muss.