Pop: Ein Loch im Folientunnel
Der britische Folksänger Richard Dawson singt auf seinem neuen Album von den alltäglichen Verrenkungen in der Familie.

Ganz zu Beginn schlägt ein Blitz ein: Jen schaut die Serie «Neighbours», Dad pfeift im Bad, Mam liegt auf dem Sofa, liest die Zeitungen von gestern, als auf einmal das ganze Haus bis zur letzten Ecke ausgeleuchtet ist, durch ein loderndes Licht, das alles sieht. «Bolt» heisst dieses erste Lied auf «End of the Middle», dem neuen Album des Newcastler Folksängers Richard Dawson, und es wird hier nur kurz übernatürlich. War dieses alles durchscheinende Licht tatsächlich ein Blitz oder am Ende doch einfach ein langersehnter Anruf, den man in letzter Sekunde nicht erwischt hat?
Der Blitz, der die Familie für einen Moment hell erleuchtet, ist auch eine Metapher für dieses Album: Es dreht sich um familiäre Angelegenheiten, wobei Dawson als begnadeter Erzähler in immer wieder andere Rollen schlüpft. Lauter Ich-Perspektiven in diesen Songs, die im Verbund des Albums als lose Mitglieder einer möglichen Familie zusammenkommen. Das Älterwerden und der damit verbundene Rollenwechsel, je nachdem, wie man sich verändert, wer mit der Zeit weitergeht und wer neu dazukommt, sind hier immer Teil der Erfahrung: der Elternteil in «Bullies», der grausam detailliert von seinen Mobbingerfahrungen als Kind erzählt und nun, erwachsen geworden, sein eigenes, mobbendes Kind von der Schule abholen muss.
Das hochschwangere Paar in «Removals Van», das ins erste gemeinsame Haus zieht: Zwischen Umzugskartons und Lieferwagen erinnert sich eine:r von ihnen, wie damals das eigene Daheim im brutalen Streit auseinanderfiel. Oder die Grossmutter in «Gondola», die nicht mehr bereuen will – und doch immer daran denken muss, dass sie eigentlich gerne studiert hätte oder zumindest nach Venedig gereist wäre. Vielleicht kommt ja jetzt die Enkelin mit?
Warm und sperrig
All diesen Figuren leiht Dawson seine unverkennbare Stimme, präzise schlingernd, oft im Falsett. Viele hätten das Gefühl, die Erzählfigur in seinen Songs sei er selbst, sagte er vor einigen Jahren in einem Interview. Oder zumindest, dass es sich bei ihnen immer um Männer handle – dabei versuche er in den meisten Songs, genderneutral zu schreiben; in ungefähr der Hälfte stelle er sich die singende Figur als Frau vor. Auf «End of the Middle» ist der ständige Perspektivenwechsel nun offensichtlich; mit dem Fokus auf die Familie hebt sich das Album von seinen Vorgängern ab: «Peasant» (2017), «2020» (2019) und «The Ruby Cord» (2022) bildeten eine ambitionierte Trilogie über Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart.
Dawsons Gesang ist warm und sperrig zugleich, er kümmert sich selten ums Reimen, singt über die Zeilenenden hinaus, um der Erzählung zu folgen, seinen vermissenden, streitenden, unzufriedenen, sehnsüchtigen Protagonist:innen. Neben der Stimme werden diese reduzierten, nicht unbedingt einfachen Folksongs von Dawsons Gitarre und einem Schlagzeug (Andrew Cheetham) getragen. Ab und zu mischt eine mal zögerliche, mal zeternde Klarinette (Faye MacCalman) mit: Auf «Knot» zum Beispiel, in dem auf dem Nachhauseweg von einer fürchterlichen Hochzeitsfeier im Auto ein Streit ausbricht, klingt sie fast wie ein Schreien.
Dawson spielt seine Gitarre so virtuos, dass man sich an Konzerten ab und zu fragt, ob da nicht von irgendwo noch eine zweite Spur herkommt. Trotzdem wirkt er unprätentiös in seinem Pullunder oder Karohemd, ein freundlicher, kleiner Mann mit warmen Augen – und, wenn man so will, eine Art moderner Barde im Sinne eines Geschichtenerzählers, der sich nicht weit umhören muss, um zu seinem Stoff zu kommen.
Gartengewohnheiten
Der Alltag mit seinen grossen Gefühlen und Gleichzeitigkeiten lässt sich dann etwa anhand eines Schrebergartens erzählen: «Polytunnel» berichtet vom Glück im Geviert zwischen Gemüsebeet und Obstbaum, vom Jäten, Ausdünnen und Zurückschneiden. Bloss zwei Zeilen geben diesem leichtfüssigen Lied eine weitere Dimension: «It’s Karen who was always the green-fingered one / I don’t really know what I am doing», singt Dawson hier, bevor die Erzählfigur weitersät, ein Loch im Folientunnel flickt oder mit den Nachbar:innen einen Kaffee trinkt. Wo die gründaumige Karen wohl hin ist? Der Verlust, welcher Art er auch immer sein mag, ist eben Teil der Gartengewohnheit.
Zum Schluss bleiben Gitarre und Schlagzeug aus, dafür gibts funkelnde Synthesizer und einen Gastauftritt von Sally Pilkington, die mit Dawson auch in der Band Hen Ogledd sowie im Experimentalduo Bulbils zusammenspielt. Die intergenerationale Mehrstimmigkeit wird auf «More Than Real» zum ersten Mal tatsächlich von zwei Singstimmen verkörpert: Dawson als Vater über den Moment, als sein Kind zur Welt kommt, Pilkington als Kind über den Vater, da dieser sie verlässt. Man könnte die gnadenlose Ehrlichkeit auch mit Kitsch verwechseln, wenn Pilkington mit ihrer hohen, glockenklaren Stimme von dem Moment singt, als jemand beim Pflanzengiessen von der Einlieferung des Vaters ins Spital erfährt, ins Auto steigt, sich verabschieden geht. Auch das ist schliesslich Alltag: wenn ein Mensch stirbt – das Traurigste und das Normalste auf der ganzen Welt.
