Film: Die Blutung stoppen

Man unterstütze hier «Mieter bei der Wohnungssuche» und nicht «Mütter bei ihrer Selbstverwirklichung». Gereizt nimmt der Sozialarbeiter die Brille ab. Vor ihm sitzt Jule (Ophelia Kolb): alleinerziehend, arbeitslos und vorbestraft, aber nicht bereit, sich deshalb kleinzumachen. Nach einem Witz über die viel zu entlegene Wohnung, die ihr angeboten wurde, fordert sie einen Vorschuss, um ein altes, leicht baufälliges Häuschen zu kaufen, das ihr und ihren drei Kindern einen weiteren Umzug ersparen würde. So könne sie endlich «die Blutung stoppen».
Gemeint ist die Armutsspirale, in der Jule steckt. Beim Versuch, Geld aufzutreiben oder ihren Job zurückzubekommen – so genau erfährt man das nicht –, lässt sie ihre Kinder in einer Bar sitzen. Später beklaut sie eine ehemalige Kollegin, beschimpft den Immobilienhändler, der das Häuschen an ein Ehepaar verkaufen will, obwohl dieses frühestens im Ruhestand darin wohnen wird, und bringt die Schulleitung gegen sich auf, bis schliesslich die Polizei vor der Tür steht. Erzählt wird das sowohl aus ihrer Perspektive als auch aus derjenigen ihrer Tochter (überzeugend gespielt von Jasmine Kalisz Saurer), die als Älteste einspringen muss, wo immer ihre zunehmend unzuverlässige Mutter trotz spürbarer Liebe und Fürsorgewillen ausfällt.
Mit ihrem Erstling «Les courageux», beim Zurich Film Festival mit zwei Preisen ausgezeichnet, beweist die schweizerisch-amerikanische Regisseurin Jasmin Gordon einen scharfen Blick für soziale Dynamiken. Der Antiautoritätsreflex ihrer Protagonistin ist zwar etwas übertrieben, und die Vorgeschichte der Familie bleibt so vage, dass womöglich auch im Publikum einige gereizt die Brille abnehmen werden. Letztlich wäre aber auch das nur ein Beweis für die gelungene Provokation des Films: Armut nicht mehr länger moralisch zu bewerten, sondern als etwas begreifbar zu machen, das einer bedingungslosen Ersten Hilfe bedarf, um ernste Folgeschäden zu vermeiden.