Grossbritannien: «Die Rechte ist in unsere Gesellschaft gekrochen»

Nr. 23 –

Die extrem rechte Partei Reform UK kann sich immer mehr etablieren. Das liegt auch daran, dass sich viele von Labour abwenden. Besuch in einem ehemaligen Industriegebiet in Nordengland.

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ein Mann mit Leiter in Easington Colliery in der nordenglischen Grafschaft Durham
«Die Regierung schert sich nicht um uns»: Die ehemalige Labour-Hochburg Easington Colliery in der nordenglischen Grafschaft Durham. Foto: Christopher Furlong, Getty

«Es geht schon lange abwärts», sagt Thomas McManners, 67 Jahre alt, teilpensionierter Elektroingenieur, Träger einer Goldkette und eines Kurzhaarschnitts. Die jungen Leute nähmen Drogen, die älteren würden trinken, und wer könne, ziehe anderswohin, sagt er über seine Heimat Easington Colliery, eine Siedlung in der nordenglischen Grafschaft Durham.

Seit Jahrzehnten werde nichts investiert, «die Regierung schert sich nicht um uns». Und dann seien da noch die Migranten, die die Behörden ins Land liessen. «Das muss aufhören», sagt McManners. Einst war er ein Labour-Anhänger, aber das ist lange her. In den Gemeinderatswahlen vor einem Monat habe er die extrem rechte Reform UK gewählt, sagt er mit Bestimmtheit. «Es ist Zeit für einen Wandel.»

McManners hat es gemacht wie die meisten hier. Im Wahlkreis Easington gingen alle drei Sitze an Reform UK. Auch im Rest von Durham County triumphierte Nigel Farages Rechtsaussenpartei, sie gewann eine Mehrheit im Gemeinderat. Es ist eine von zehn Kommunen in Grossbritannien, die Reform UK nunmehr kontrolliert. Die Wahlen Anfang Mai haben bestätigt, was seit vielen Monaten offensichtlich ist: Reform UK – gemäss Umfragen mit rund dreissig Prozent die derzeit stärkste Partei – hat sich als prägende Kraft etabliert.

Erinnerungen an den grossen Streik

Easington Colliery, knapp 5000 Einwohner:innen, war mal ein «pit village», ein Bergbaudorf. Jahrzehntelang arbeitete der Grossteil der Männer in der Zeche, 400 Meter unter dem Meeresboden bauten sie Kohle ab – harte, gefährliche Arbeit, aber ordentlich entlöhnt. Nachdem die Grube 1993 geschlossen wurde, setzte schnell die Verwahrlosung ein. Heute zählt die Gemeinde zu den ärmsten zehn Prozent in Grossbritannien, die Kinderarmut hat Rekorde erreicht. Ebenso verbreitet sind Übergewichtigkeit, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit.

Das Strassenbild ist typisch für ein englisches Bergbaudorf. Schmale, identische Häuschen reihen sich aneinander, in den Vorgärten hängt die Wäsche. Der Ballett- und Bergarbeiterstreik-Filmhit ­«Billy Elliot» (2000) wurde hier gedreht. Aber wer an diesem sonnigen Vormittag Ende Mai durch die Strassen geht, spürt von den Feel-good-Vibes jenes Films nichts. Viele Wohnhäuser sind verbarrikadiert, ebenso etliche Geschäfte an der Hauptstrasse. Ein Auto ohne Reifen steht neben einer umgekippten Mülltonne. Drei junge Männer im Trainingsanzug schauen den Besucher misstrauisch und wortlos an.

Dass die radikale Rechte hier, in einem ehemaligen Industriegebiet, Auftrieb hat, ist einerseits nachvollziehbar: Demagog:innen schlagen Kapital aus der verbreiteten Perspektivlosigkeit, sie schieben die Probleme den Migrant:innen in die Schuhe und versprechen, die Einheimischen an erste Stelle zu setzen. Aber eine entscheidende Rolle in dieser Geschichte spielt auch die Labour-Partei. Früher, so geht der Witz, hätte man hier einer Sau die rote Labour-Rosette anheften können, und sie wäre mit grosser Mehrheit ins Parlament gewählt worden.

Wenn Heather Wood einst durch die Strassen von Easington Colliery ging, sagten die Leute: «Ah, hier kommt die Labour-Partei!» Fünfzig Jahre lang war sie aktives Parteimitglied, acht Jahre lang sass sie als Abgeordnete im Gemeinderat. Bereits als Kind sei sie zur Sozialistin geworden, sagt Wood. Ihr Vater – Bergmann natürlich – habe ihr gesagt, «was richtig und was falsch ist». Das einschneidende Ereignis in ihrem Leben kam 1984. Um die geplante Schliessung von zwanzig Zechen durch die konservative Regierung von Margaret Thatcher zu verhindern, trat die Gewerkschaft der Bergarbeiter in den Streik. Der einjährige «miners’ strike» war die wichtigste Konfrontation zwischen Regierung und Lohnabhängigen in der britischen Nachkriegszeit. Er endete mit einer Niederlage für die Bergarbeiter, aber dieses eine Jahr stärkte den sozialen Zusammenhalt der Community umso mehr.

Der bierselige Farage

Wood engagierte sich in der Gruppe Women Against Pit Closures. Es sei für die Streikenden eine Lebensader gewesen, sagt sie. Die Frauen sorgten nicht nur dafür, dass die Bergarbeiter zu essen hatten, sie stellten sich mit ihnen an die Streikposten, trieben Spendengelder auf, boten moralische Unterstützung und Beratung. Ohne die Frauen wäre der Streik innert Kürze kollabiert, da hat Wood keine Zweifel.

Heute ist Wood 73 Jahre alt. Sie geht am Stock und hört nicht mehr so gut – aber wenn sie spricht, ist sie noch immer so feurig wie in jüngeren Jahren. Im Gespräch kommen ihr manchmal Tränen, etwa als sie von der Solidarität während des Streiks spricht. Dann wieder schneidet sie ihr Gesicht zu einer zornigen Grimasse und zieht die Hand zusammen, als wolle sie jemanden darin zermantschen – zum Beispiel als die Rede auf Margaret Thatcher kommt. Oder auf Keir Starmer, den aktuellen Labour-Premierminister.

Nach der Niederlage des Bergarbeiterstreiks und der Schliessung der Grube knapp zehn Jahre später hielten die Wähler:innen in Durham County lange Zeit an der Labour-Partei fest, wenn auch mit abnehmendem Enthusiasmus. Noch bei den Lokalwahlen von 2017 gewann die Partei eine ansehnliche Mehrheit im Gemeinderat, in Easington war das Labour-Votum überwältigend. Aber zu jener Zeit stellte Wood fest, dass die Partei immer weniger sichtbar war: «Früher waren Labour-Aktivisten immer in der Öffentlichkeit präsent. Manchmal luden sie zu einem Pie-und-Erbsen-Abendessen, oder sie organisierten einen Bingoabend für die Rentner. Sie halfen im Jugendklub aus oder im Gemeindezentrum.» Wenn man Rat brauchte, dann fand man ihn an einem dieser Orte. Aber das habe sich geändert: «Die Labour-Partei verschwand im Untergrund.»

Und diese Leerstelle habe die Rechte gefüllt. Langsam sei sie «in die Gesellschaft gekrochen» und habe sie «infiltriert», sagt Wood. Besonders aktiv seien Kreise ehemaliger Armeeangehöriger geworden, sie hätten sich auf ihren Patriotismus berufen und Leute rekrutiert. Vor einigen Jahren sei Nigel Farage, der Parteichef von Reform UK, in East Durham auf Tour gegangen, erzählt Wood. «Er klapperte ein Pub nach dem anderen ab, kaufte den Leuten ein Pint und schäkerte mit ihnen. ‹Der scheint ganz okay›, sagten die Leute.» Wenn man am Boden sei und nichts habe, dann versuche man, sich an allem festzuhalten, sagt Wood. «Farage versprach das Blaue vom Himmel.» Jobs für alle und ein Ende der Immigration.

Der asoziale Starmer

Dass gerade die Einwanderung die Gemüter so erhitzt, ist überraschend. In Easington Colliery trifft man wenige Migrant:innen, in ganz County Durham sind fast 97 Prozent der Einwohner:innen weiss. Auf Nachfrage, was denn genau das Problem bei der Einwanderung sei, sagt der Elektriker Thomas McManners: «Na ja, hier spezifisch ist sie kein Problem.» Laut Heather Wood gibt es mehr ehemalige Bergbauern, die heute in Spanien leben, als Migrant:innen in Durham County. Aber Farage und seine Reform UK hätten die Leute «in Angst und Schrecken versetzt». Mit tatkräftiger Mithilfe der konservativen Medien ist Migration seit einigen Jahren wieder zu einem heissen Thema geworden. Zudem fehlten den Kommunen die finanziellen Mittel, um den wenigen Asylsuchenden, die hierhergeschickt würden – oft von südenglischen Gemeinden, die billige Wohnungen suchten –, angemessene Unterstützung zu bieten, sagt Wood.

Die Parlamentswahl vom Juli 2024 sei die letzte Chance gewesen, den Vormarsch der Rechten aufzuhalten. Wood war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Parteimitglied. Vor etwa drei Jahren sei sie zum Grab ihrer Eltern gegangen, um ihnen zu beichten, dass sie aus der Labour-Partei austreten werde. «Es war eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich je getroffen habe», sagt sie. Aber ihre Erschütterung über den Rechtskurs unter Starmer ging zu tief (siehe WOZ Nr. 13/25).

Heather Woods Plan

Dennoch hoffte Wood auf eine Wende mit Labour. Nach vierzehn Jahren Tory-Regierung hatte Starmer die Möglichkeit, den abgewirtschafteten Regionen unter die Arme zu greifen. Der Labour-Kandidat in Easington gewann mit 49 Prozent der Stimmen, wenn ihm auch die Reform-Partei mit knapp 30 Prozent auf den Fersen war.

Die Ernüchterung über die neue Labour-Regierung setzte umgehend ein. «Was ist das Erste, das Starmer macht?», fragt Wood. «Er kürzt die Heizzuschüsse für Rentner und hält an der von den Tories eingeführten Kürzung der Sozialleistungen für Familien mit mehr als zwei Kindern fest.» Diese Sparmassnahmen beim Sozialbudget werden in jedem Gespräch mit den Bewohner:innen von Easington Colliery angesprochen.

Laut Meinungsforschenden war das ein wichtiger Grund, warum Reform UK in den englischen Lokalwahlen so gut abgeschnitten hat. Wenig verwunderlich, dass Nigel Farage vergangene Woche versprach, die von Labour eingeführten Sozialkürzungen rückgängig zu machen, und sich kürzlich für eine «gute Partnerschaft mit den Gewerkschaften» aussprach.

Nach den Wahlen vom Juli 2024 sprachen viele Expert:innen von einem «Kartenhaussieg». Wenn Labour nicht den versprochenen Wandel herbeiführen würde, dann werde die Unterstützung in sich zusammenfallen – und der radikalen Rechten ein Einfallstor bieten. Genau dieses Szenario ist jetzt eingetreten. Die Umfragewerte von Labour sind seit ihrem Regierungsantritt im freien Fall; noch nie hat eine neue Regierung in ihren ersten zehn Monaten so schnell an Unterstützung verloren. Mit Verspätung hat Labour erkannt, was für einen Schaden sie mit den sozialen Kürzungen angerichtet hat, darum hat die Partei kürzlich eine teilweise Kehrtwende eingeleitet. Aber es könnte bereits zu spät sein.

Heather Wood gibt jedoch nicht auf. Im März, als die Gedenkfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Bergarbeiterstreiks zu Ende gingen, gründeten sie und ihre Kolleginnen eine Nachfolgeorganisation von Women Against Pit Closures. Sie nennt sich National Women’s Action for Positive Change. Sie werden da anfangen, wo sie sich auskennen: an der Basis. «Wir werden Frauen zum Kaffee einladen, Workshops organisieren und so weiter», sagt sie. «Wir werden mit den Leuten reden und sie von einem Votum für Reform abbringen.» Es werde Zeit brauchen, aber eine Alternative gebe es nicht. Langsam soll so der öffentliche Raum von der Rechten zurückgewonnen werden.

«Wir haben grosse Pläne», sagt Wood.