Linke Perspektiven: «Diese Art der Globalisierung ist absurd»
Der Bundesrat, die EU, die bürgerlichen Parteien – alle haben versagt, finden Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone und SP-Fraktionspräsident Samuel Bendahan. Die neuen Zölle solle man nun als Anlass dafür nehmen, das Wirtschaftsmodell der Schweiz zu überdenken.

WOZ: Lisa Mazzone, Samuel Bendahan, Ihre Parteien kritisieren den Bundesrat und speziell die Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter wegen der gescheiterten Verhandlungen mit den USA. Was hätte sie denn sonst tun können, als nach Washington zu fliegen und das Gespräch zu suchen?
Samuel Bendahan: Die SP hat immer gesagt, die Schweiz solle vor den Verhandlungen mit den USA zuerst mit der EU diskutieren, um eine gemeinsame Position zu finden. Doch Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter und die bürgerlichen Parteien glaubten, die Schweiz könne wie in der Vergangenheit im Alleingang das Beste herausholen. Es zeigt sich jetzt, dass das nicht mehr möglich ist.
Lisa Mazzone: Der Bundesrat stand von Anfang an auf der falschen Seite. Er versuchte, sich von der EU abzugrenzen. Karin-Keller-Sutter lobte etwa eine rechtspopulistische Rede von US-Vizepräsident J. D. Vance und stellte sich damit auf die Seite der Antidemokrat:innen. Der Bundesrat glaubte, damit besser als die EU zu fahren. Was für ein Fehler!
Mazzone und Bendahan
Die Genferin Lisa Mazzone (37) ist seit vergangenem Jahr Parteipräsidentin der Grünen. Sie sass für ihre Partei von 2015 bis 2019 im Nationalrat, danach bis 2023 im Ständerat. Sie hat lateinische und französische Sprache studiert sowie vergleichende Literatur und Gender Studies.
Der Waadtländer Samuel Bendahan (45) ist seit 2017 Nationalrat und seit zwei Jahren auch Ko-Fraktionspräsident der SP. Der Ökonom unterrichtet an der Universität sowie der Technischen Hochschule von Lausanne.
WOZ: Ist denn das Verhandlungsresultat der EU so viel besser?
Mazzone: Kurzfristig ja, langfristig nein. Die EU hätte ihre Marktmacht ausspielen und mit Massnahmen gegen die US-Techindustrie, etwa mit einer Digitalsteuer, den Erpressungsversuchen von Donald Trump entgegentreten können. Jetzt opfert sie faktisch das Klima, indem sie sich verpflichtet, in den nächsten drei Jahren für 750 Milliarden US-Dollar Flüssiggas aus den USA zu kaufen. Die europäischen Grünen bekämpfen diesen Deal, zu Recht.
WOZ: Das klingt widersprüchlich. Einerseits hätte man das Vorgehen mit der EU koordinieren sollen, gleichzeitig hat die EU aber offenbar auch einen schlechten Deal gemacht.
Bendahan: Letztlich waren beide Strategien falsch. Aber die Schweizer Strategie war wohl falscher. Der Bundesrat hat gekuscht. Wir müssen härter sein, auf unseren Werten beharren. Es ist gefährlich für die Schweiz, von einem Land wie den USA abhängig zu sein, in dem eine Rechtsaussenregierung sämtliche Macht an sich gerissen hat.

Samuel Bendahan, Ko-Fraktionspräsident der SP.
WOZ: Donald Trump stören offenbar die hohen Medikamentenpreise der Schweizer Pharmakonzerne. Das ist doch auch verständlich.
Mazzone: Die Grosskonzerne haben sehr viel Geld und Macht, aber keine Ethik. Die Pharmabranche ist ein Beispiel. Die Medikamente sind viel zu teuer. Nicht nur in den USA, auch in der Schweiz oder in den Ländern des Südens. Dieses Problem lösen wir nicht, indem Roche auf Druck von Trump ein paar Fabriken in den USA baut, sondern indem wir die Pharmabranche global zu tieferen Preisen zwingen.
WOZ: Aber wir profitieren doch davon in der Schweiz. Was wäre Basel ohne den Goldesel Pharma?
Bendahan: Ja, ein Teil profitiert. Aber letztlich profitieren die breiten Bevölkerungsschichten in der Schweiz und in der Welt nicht. Nur die Aktionär:innen.
Ihre Parteikolleg:innen in Basel würden jetzt wohl widersprechen.
Bendahan: Wenn wir Steuergeld einnehmen, sind wir immer zufrieden, mit dem Geld können wir etwas für die Bevölkerung tun. Aber es wäre viel besser, die Menschen müssten nicht so hohe Medikamentenpreise oder steigende Mieten bezahlen. Das Problem ist, dass die Pharmaindustrie ausschliesslich privat organisiert ist. Wir wollen eine Pharma, die der Allgemeinheit gehört und für die Allgemeinheit da ist. Dann werden die Medikamentenpreise viel tiefer sein, und es werden auch die Medikamente hergestellt, die nötig sind.
Mazzone: In Basel wurde gerade das Gegenteil gemacht: Die Regierung hat der Pharma mit ihrer Umsetzung der OECD-Mindeststeuer Geschenke gemacht, quasi Steuergelder wieder an die Grosskonzerne zurückverteilt, statt die Einnahmen für die Allgemeinheit zu verwenden. Die Grünen haben dies bekämpft.
WOZ: Sie sind Verhaltensökonom, Herr Bendahan. Aus dieser Perspektive: Hätte der Bundesrat anders verhandeln, sich anders verhalten müssen?
Bendahan: Wir wissen, dass bei Trump nur Kraft und Macht zählen. Wenn man ihm alles gibt, was er will, dann denkt er sich: Es funktioniert, ich kann noch mehr rausholen. Das hat er mit der Schweiz gemacht. Der Bundesrat hat Trump alles gegeben, was er wollte, und dann sagte er: Okay, ich will jetzt aber einen höheren Zoll. Die Schweiz hätte also einen Partner finden müssen, um stärker auftreten zu können.
Mazzone: Klar wäre es besser, wenn wir weniger als die 39 Prozent bekommen würden. Aber jedes weitere Zugeständnis würde die Abhängigkeit gegenüber den USA nur weiter verstärken. Wir müssen uns vielmehr fragen: Was ist unsere Perspektive in der Schweiz, wo können wir Arbeitsplätze schaffen, auch im Industriebereich? Die ganze Energiewende ist ein riesiges Feld, für das man eine Strategie, auch mit den anderen Ländern Europas, entwickeln sollte. Da sollten wir investieren und die Prioritäten setzen. Wir Grünen fordern das seit Jahren.
WOZ: Herr Bendahan, Sie haben jüngst zu den Medien gesagt, es brauche spezifische Hilfsmassnahmen etwa für die Genferseeregion und den Kanton Jura. Können Sie das erklären?
Bendahan: Kurzfristig brauchen betroffene Unternehmen eine Verlängerung der Kurzarbeitsentschädigung, mittelfristig Investitionen, damit sie neue Märkte in der Schweiz und in Europa erschliessen können. Dabei müssen sie unterstützt werden.
WOZ: Geht es bei einer Verlängerung der Kurzarbeitsentschädigung nicht eher darum, dass sich dann die Unternehmen möglichst lange nicht anpassen müssen? Sie können einfach länger durchhalten, bis Trump irgendwann wieder weg ist?
Mazzone: Das sehe ich auch so. Die Kurzarbeitsentschädigung ist wichtig für die Menschen, klar. Aber es braucht auch mittelfristige Massnahmen. Wir müssen eine Transformation unseres jetzigen Wirtschaftsmodells vorantreiben. Wegen der Klimakrise, wegen der Menschenrechte und weil sich zeigt, wie problematisch es ist, wenn man von autoritären oder unzuverlässigen Staaten wie Russland, China oder den USA abhängig ist. Die Transformation braucht ein Umdenken. Doch was klar ist: Der Bundesrat ist völlig unfähig, so ein Umdenken zu vollziehen. Er versucht bloss, zum vorherigen Status quo zurückzukehren.
WOZ: Das ist auch nicht besonders überraschend – oder markiert dieser Zollstreit wirklich eine Zeitenwende?
Mazzone: Mit Trump hat der Wind eindeutig gedreht. In den letzten Jahren gab es eine Bewegung hin zu faireren Spielregeln, etwa Gesetze für bessere Standards in den Lieferketten bezüglich Umwelt und Menschenrechten in Europa, die OECD-Mindeststeuer, die Diskussion um internationale Klimafinanzierung. Das ist alles nicht perfekt, aber die Richtung stimmte. Die Schweiz hat diese Wende leider nie richtig vollzogen. Man darf nicht vergessen, dass kaum ein Land von dieser neoliberal geprägten Globalisierung so stark profitiert hat. Und man sieht dem Bundesrat ja an, wie fassungslos es ihn macht, dass das nicht mehr so einfach geht – kurz nachdem man hier die Industriezölle abgeschafft hat und hoffte, die anderen würden es einem gleichtun.

WOZ: Werden wir konkreter: Viele der Unternehmen, zum Beispiel in der Genferseeregion und im Jura, sind keine Grosskonzerne, sondern kleinere Industrieunternehmen. Uhrenfirmen zum Beispiel können sich nicht auf einmal völlig neu ausrichten. Die machen halt Uhren.
Mazzone: Ja, das ist schon klar. Für diese hochpräzisen Produkte gibt es aber auch weiter einen Markt. Ein anderes Beispiel sind die Nespresso-Kapseln. Der Kaffee kommt aus Nicaragua, fliegt in die Schweiz, wird hier verpackt – und dann als Einwegkapsel wieder in die ganze Welt exportiert, allein in die USA im Wert von einer Milliarde Franken pro Jahr. Da muss man sich schon fragen: Ist das sinnvoll? Das Gleiche gilt für billige Temu-Produkte aus China, die unseren Markt überfluten und kaputtmachen. Diese Art der Globalisierung ist absurd.
Bendahan: Diese Zollgeschichte bietet die Möglichkeit und einen Anlass dafür, unsere Wirtschaft zu überdenken und besser zu organisieren. So viel Profit, der heute erzielt wird, basiert auf einer Globalisierung, die weder Menschenrechte noch Umweltstandards kennt. Die entscheidende Frage ist doch, wie wir die Kompetenzen und die Arbeitskraft in der Schweiz so einsetzen können, dass sie für die Allgemeinheit nützlich sind – auch im Rest der Welt. Wobei es natürlich ein Problem ist, dass genau diese kleineren, spezialisierten Unternehmen jetzt am stärksten betroffen sein werden. In diese Unternehmen müssen wir investieren.
WOZ: Wer ist dieses «wir», das jetzt investieren soll?
Bendahan: Eine Möglichkeit sind beispielsweise À-fonds-perdu-Beiträge, so wie in der Covid-Zeit. Und finanzieren könnte man solche Zahlungen mit der Besteuerung des Schweizer Umsatzes US-amerikanischer Techunternehmen.
WOZ: Und wenn Trump als Reaktion den Zollsatz dann auf, sagen wir, 55 Prozent erhöht?
Bendahan: Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Mazzone: Die Plattformregulierung wäre extrem wichtig, mit oder ohne Zollstreit. Es geht um Unabhängigkeit und Souveränität, aber auch um die Bekämpfung von Fake News, um den Einfluss des Rechtsextremismus, der auch hier immer mehr an Bedeutung gewinnt.
WOZ: Diese Unterstützungsideen bleiben aber auch ein wenig wolkig. Was für Projekte sollen umgesetzt werden, mit welchen Firmen?
Bendahan: Unternehmen, die stark von den USA abhängig sind, sollten die Möglichkeit erhalten, Projekte und Investitionen vorzuschlagen, die ihnen neue Märkte erschliessen würden – unter Berücksichtigung ökologischer und ethischer Standards. Und für diese Projekte könnte man ihnen Geld zur Verfügung stellen. Wenn der Plan funktioniert, können sie das Geld zurückzahlen. Ehrlicherweise muss ich aber auch sagen: Ich nehme für mich wenige Tage nach diesem Zollentscheid nicht in Anspruch, für jedes einzelne Unternehmen bereits den perfekten Plan zu haben.
Mazzone: Es darf aber nicht passieren, dass der Gewinn danach privatisiert wird und Verluste auf die Allgemeinheit abgewälzt werden wie bei Covid. Wie haben die Wirtschaft und ihre bürgerlichen Politiker:innen die Covid-Milliarden aus der Staatskasse verdankt? Mit einem Sparpaket, das die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung direkt betrifft und einschränkt. Die Grünen sind bereit, dagegen ein Referendum zu ergreifen.
WOZ: Soll die Schweiz nun auch wieder Zölle einführen?
Bendahan: Wir waren dagegen, die Industriezölle abzuschaffen. Zölle sind sinnvoll, wenn es eine lokale Industrie gibt, die damit geschützt werden kann. Was Trump macht, ist dagegen ein Fehler, der die amerikanische Bevölkerung treffen wird. Für viele Produkte, auf die nun Zölle erhoben werden, gibt es in den USA gar keine Industrie. Das heisst: Letztlich werden die Konsument:innen einfach Aufpreise zahlen müssen.
WOZ: Wirtschaftspolitik ist mehr als eine Frage der Zölle. Ist das Problem letztlich der Freihandel?
Bendahan: Ich verstehe die Kritik am Freihandel: ökologische Probleme, schreckliche Arbeitsbedingungen an ausgelagerten Produktionsstandorten und so weiter. Aber daran ist nicht einfach nur der Freihandel schuld, sondern vor allem die Macht- und Geldkonzentration, die immer extremer wird. Die Milliardäre und Oligarchen scheren sich nicht um Zölle, und diese Leute haben immer mehr Macht, die sie auch nutzen, um Medien, Regierungen, die Politik zu kontrollieren. Das ist, denke ich, derzeit die grösste Gefahr. Auch in der Schweiz. Die SVP und die FDP verfolgen ja diese Oligarchenstrategie auch, und sie sind es, die sich jetzt etwa für die Zerstörung der SRG einsetzen, also den Service public zugunsten der Medienoligarchen schwächen wollen.
Mazzone: Von der Globalisierung zu profitieren, war das Businessmodell der Schweiz. Die Bürgerlichen haben diese Konzentration von Macht und Kapital gefördert, ohne internationale Bemühungen mitzutragen, ohne wirkliche Steuern zu erheben, ohne sich für mehr globale Gerechtigkeit einzusetzen. Deshalb stört es mich auch, dass man jetzt so empört tut, weil sich dieses System auf einmal auch gegen die Schweiz richtet. Es braucht jetzt ein Umdenken. Solidarität soll nicht nur dann Thema sein, wenn Menschen in der Schweiz von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Wir sollten uns auch daran orientieren, wenn es um andere Länder geht, besonders um die Länder des Südens. Globale Gerechtigkeit muss unser Kompass sein. In den nuller Jahren gab es noch die grosse Bewegung des Altermondialismus, die sich damit beschäftigt hat, wie man global an Alternativen arbeiten und eine globale Bewegung in Gang setzen kann. Ich wünschte mir, dass man sich wieder vermehrt solchen Fragen stellt – und als Linke wieder in diese Perspektive investiert.