«In die Sonne schauen»: Im Rauschen der Zeit
Ein deutsches Jahrhundert als Poesiealbum morbider Fantasien? Seit dem Jurypreis in Cannes sorgt der zweite Spielfilm von Regisseurin Mascha Schilinski für Furore.


Wenn jetzt seit der Premiere in Cannes bei jeder Gelegenheit wieder von einem neuen «Filmwunder» die Rede ist: erst mal scharf stellen. Die Chiffre ist schief, weil sie künstlerische Arbeit verschleiert. Wunder passieren (sofern man an welche glaubt), Filme werden gemacht. Im Fall von «In die Sonne schauen», dem zweiten Spielfilm von Mascha Schilinski, kann man genau umreissen, was daran mirakulös anmutet. Dass eine deutsche Produktion mit einem minimalen Budget von gerade einmal 1,6 Millionen Euro ganz ohne das Patronat grosser Namen gleich in den Wettbewerb von Cannes gehoben wird: Das ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie auf dieser Ebene des internationalen Festivalbetriebs wirklich kaum mehr vorkommt.
Und der Film selber? Kein Wunder, sondern schiere Meisterschaft bei einem hohen Mass an gemeinschaftlicher Selbstausbeutung.
Aber wo anfangen bei einem so weit ausgreifenden, überwältigend intimen Mosaik von einem Film? Vielleicht ganz am Anfang, mit dem allerersten Bild. Eine junge Frau in einem dunklen Korridor, sie geht an Krücken, denn ihr fehlt ein Bein. Krieg? Ein Unfall? Wenige Augenblicke später zeigt sich: Die Krücken gehören nicht ihr, wir haben diese Frau falsch gelesen.
Die Wahrheit der Körper
Das Bild hat vielleicht getäuscht, aber es trügt nicht. Tatsächlich ist «In die Sonne schauen» von Mascha Schilinski immer auch ein Film über die Wahrheit der Körper, vor allem der weiblichen: über das, was ihnen angetan wird, ob sichtbar oder nicht, über das, was sie davon weitergeben, ob bewusst oder nicht; und auch über das, was ein Körper von sich aus kundtut, ob wir das wollen oder nicht. «Schon komisch», meint eine der Kinderstimmen einmal, die durch diesen Film spuken, «dass man rot wird, wenn man sich schämt – und dann noch so am Kopf, wo jeder es sieht.»
Oder dann diese beiden Frauen, die ihr Inneres so strikt unter Verschluss halten, dass es sich halt manchmal seine eigenen Wege bahnt, um sich zu äussern. Die eine, eine strenge Gutsherrin, wird öfter mal von einem fürchterlichen Würgen erfasst; die andere, zwei Generationen später, lacht eigentlich nie – aber wenn doch, dann nur in den unpassendsten Momenten, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Es sind jeweils die Töchter, die sich halb verwundert darüber auslassen, dass Mutters Magen «wieder mal macht, was er will», oder über das Lachen am falschen Ort.
Die erste dieser Frauen lebt vor dem Ersten Weltkrieg, die andere dann in der DDR, etliche Jahre noch vor der Wende. Aber alle Figuren hier bewohnen denselben Hof in Sachsen-Anhalt, der das Gravitationsfeld dieses Films bildet – über vier Generationen hinweg, bis in die Gegenwart hinein.
Schon die Idee für das Drehbuch ist an diesem Ort entstanden. Als sie wegen der Pandemie einen Dreh unterbrechen musste, zog Mascha Schilinski mit ihrer Kollegin Louise Peter kurzfristig auf diesen seit Jahrzehnten leer stehenden Hof, wo jede für sich an neuen Projekten schreiben wollte. Doch die Gemäuer mit ihren Geheimnissen zogen die beiden dann zusehends in ihren Bann. Sie hätten da über die Stockwerke buchstäblich durch die Zeiten schreiten können, so erzählte Schilinski in einem Interview mit der «Vogue»: «Oben hatte man das Gefühl, man wäre noch in den 1910er-Jahren, unten war man dann in den 70er-Jahren der DDR-Zeit gelandet.»
Später haben die beiden in historischen Zeugnissen über das Umland recherchiert. Dabei sind sie etwa – inmitten von Kindheitserinnerungen und so beiläufig, dass sie es fast überlesen hätten – auf die Sache mit der Zwangssterilisierung von Mägden gestossen. Wo ihre Recherchen dann nicht weiterführten, so Schilinski, hätten sie, ausgehend von ihren Figuren, «fast halluzinativ» das Wesen dieses Ortes zu ergründen versucht.
Etwas vom Beeindruckendsten an ihrem Film ist nun, wie sich darin genau diese Erfahrung eines solchen halluzinativen Gleitens durch die Zeiten überträgt. Die Übergänge zwischen den Epochen sind meist nur indirekt markiert, über die Figuren, die Ausstattung. Oder auch über das Sounddesign, das oft ein dräuendes Rauschen anschwellen lässt, als wärs eine Metapher für die traumatischen Erfahrungen, die von einer Generation auf die nächste übergehen. Und weil das kein Film ist, der sein Publikum bei der Hand nimmt, braucht es seine Zeit, bis man sich zurechtfindet in diesem Gewebe, zwischen den verschiedenen historischen Ebenen mit ihrem jeweiligen Personal.
Algebra der Liebe
«Man spürt den Film mehr, als man ihn versteht», so formulierte das eine Kritikerin. Allerdings kaschiert dieses feinstofflich-assoziative Erzählen über die Zeiten hinweg manchmal auch, wo etwas nicht zu verstehen ist – weil es einfach schlecht behauptet ist. Namentlich bei einem zentralen Motiv, wo es darum geht, einen arbeitsfähigen Stammhalter vor dem Kriegsdienst zu bewahren – mit einem Gnadenakt, der so gar nicht plausibel wirkt in dieser bäuerlichen Gemeinschaft, die der Film als engherzig und bigott zeigt. (Algebra der Liebe am Familientisch: Wenn Mutter einmal blinzelt, hat sie dich lieb, zweimal Blinzeln heisst, sie hat dich ganz fest lieb.)
Für einen Film, der ab dem Vorabend des Ersten Weltkriegs ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte umspannt, wirkt «In die Sonne schauen» zudem eigenartig hermetisch – wie abgedichtet gegen so vieles, was in der Welt draussen vor sich geht in dieser Zeit. Klar, das ist auch der Einheit des Ortes geschuldet, wodurch fast alles, was jenseits des Hofs liegt, ausgeklammert bleibt. Alles Politische, die schwere Last der Geschichte, so könnte man kritisieren, verflüchtigt sich hier im Schweben der Form an Ort und Stelle. Zugleich aber ergibt sich das auch aus dem, was diesen Film auszeichnet: wie er nämlich in einem absolut unkitschigen Sinn mit dem Blick der Kinder auf die Welt schaut. Also auf das Leben unter Menschen und damit immer auch: auf den Tod.
«In die Sonne schauen» ist ein grosser Reigen morbider Fantasien. Sie sei regelrecht «süchtig nach Kellergeruch», sagt eins der Mädchen einmal. Überhaupt sind sie alle irgendwie besessen vom Tod, die Mädchen und jungen Frauen in diesem Film. Bei manchen sind Todessehnsucht oder die Lust am Schmerz nicht zu trennen vom Bewusstsein, dass die Erwachsenen, vor allem die Männer, über sie und ihren Körper verfügen, sei es mit Gewalt oder bloss mit taxierenden Blicken. Bei anderen ist es mehr eine kindliche Faszination für die eigene Sterblichkeit, die vor über hundert Jahren im Alltag noch präsenter war, als das heute der Fall ist. Am eindringlichsten und auf buchstäblich unheimliche Weise verkörpert das die kleine blonde Alma, die wie eine unerlöste Seele durch diesen Film geistert.
Die Mutter als Phantom
Einmal erblickt diese Alma auf einem Andachtsbild das verzerrte Gesicht ihrer eigenen Mutter, bei der Belichtung verwischt wie ein doppelköpfiges Phantom. Noch verstörender aber ist das, was auf dem Foto scharf ist: Die tote Schwester auf dem Bild, das ist doch sie selbst, oder wieso sieht die genau so aus wie sie? Später dann, beim Versteckspiel mit den Geschwistern, dieser metaphysische Abgrund, als Alma nicht gefunden und weder gehört noch gesehen wird. Unter dem Baum, auf dem sie sich versteckt hat, gehen ihre Schwestern einfach weiter, als seien sie für Almas Rufen taub.
Die Stimmen aus dem Off, der Spuk, der von alten und nicht so alten Fotografien ausgeht, die Nachgeborenen, die von Erinnerungen heimgesucht werden, von denen sie gar nichts wissen können: Man kann «In die Sonne schauen» auch als Gespensterfilm sehen. Und in gewisser Weise sind Gespenster auch nur Menschen, die nicht mehr an das Gesetz der Schwerkraft gebunden sind.
«In die Sonne schauen». Regie: Mascha Schilinski. Deutschland 2025. Jetzt im Kino.