Essay: Das Alltägliche und das Spektakel

Nr. 38 –

Zur Debatte über politische Gewalt nach dem Mord an Charlie Kirk.

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Trauergast bei einer Gedenkveranstaltung für Charlie Kirk
«Was kommt auf uns zu?»: Trauergast bei einer Gedenkveranstaltung für Charlie Kirk 
in New York.  
Foto: Olga Fedorova, Keystone

Ich wurde in den vergangenen Monaten öfter gefragt, ob ich mich noch sicher fühle in Trumps Amerika.

Meine innerliche Reaktion ist immer dieselbe: Ich spüre einen Drang zum Beschwichtigen. Jaja, ist schon okay, denke ich und sage es meist auch so. Ich lebe schliesslich im liberalen New York, wo kaum jemand Waffen besitzt, bin als Journalist mit gewissen Privilegien ausgestattet, ausserdem nicht von Rassismus betroffen; anders als viele Menschen bewege ich mich ohne existenzielle Ängste durch den Alltag, habe Freund:innen und Familie, die mir im Notfall helfen, und abgesehen davon: Was sollen undokumentierte Migrant:innen sagen? Was soll mein Freund Ahmad sagen, dessen Familie in Gaza lebt? Wie anmassend wäre es, wenn ich mich unsicher fühlen würde?

Jaja, ist schon okay: Das stimmt im Grossen und Ganzen immer noch. Und doch wäre es gelogen, würde ich behaupten, dass Donald Trumps zweite Amtszeit nicht auch meine persönliche Perspektive verändert hat, mein Sicherheitsgefühl. Es gibt ein Grundrauschen der politischen Anspannung, das nur selten vollständig weggeht und spätestens dann wieder hochfährt beziehungsweise vom Kopf runter in den Bauch zieht, wenn ich aufs Handy schaue und die nächste repressive Massnahme der Regierung als Breaking News aufploppt. Einen ganzen Abend nicht an die Politik zu denken, kann wiederum zu schlechtem Gewissen am nächsten Morgen führen. Irgendwie frivol, dachte ich vor ein paar Wochenenden, als das so war, was natürlich Quatsch ist.

Es gibt jedenfalls Fragen, von denen ich nie dachte, dass ich sie mir mal stellen würde: Kann ich noch schreiben, was ich für richtig halte, ohne dass das womöglich meinen Aufenthaltsstatus gefährdet, obwohl ja in der US-amerikanischen Verfassung eigentlich nichts über der Redefreiheit steht? Was passiert, wenn ich in eine Polizeikontrolle gerate und meinen Pass mit Visum nicht dabei habe? Welche Orte, welche Situationen sollte ich lieber vermeiden?

Allein diese Gedankengänge aufzuschreiben, fühlt sich ein bisschen peinlich an. Sich um sich selbst drehende Autoren gibt es genug. Andererseits, so ist es nun mal jetzt, hier. Und was würde es überhaupt bringen, eine Unberührtheit zu behaupten, die es nicht gibt, eine Neutralität anzugeben, die es nicht geben kann. Wer politisch lebt, also wir alle, kann sich zur Politik nicht nicht verhalten.


Als ich vom Anschlag auf Charlie Kirk in Utah hörte, waren da schnell viele Gedanken, vor allem aber eine direkte Ahnung: Dieses Ereignis wird einschneidend sein. Kirk war eine zentrale Grösse der Maga-Bewegung, und die politische Situation in den USA ist sowieso schon extrem zugespitzt. Die Materialisierung dieser Ahnung ist bereits im Gang.

Der Mord an Kirk hat eine Debatte um «politische Gewalt» ausgelöst, die von Anfang an unter schlechtesten Vorzeichen stand – angefangen bei der Kontextualisierung seiner Person. Kirk war nicht schlicht ein Konservativer, wie es in etlichen Berichten verklärt wurde, sondern in vielen Punkten ultrareaktionär, etwa in seiner radikalen Ablehnung von trans Menschen und Migrant:innen. Seine Organisation Turning Point USA führt zudem eine «Watchlist», mit der progressive Akademiker:innen diskreditiert werden. Betroffene berichten von Morddrohungen.

Das rechtfertigt nicht auch nur im Ansatz den Mord an ihm. Wenn es aber grundsätzlich um politische Gewalt geht, und dieser Diskurs läuft ja seit vergangener Woche, dann wäre es ein analytisches Armutszeugnis, Kirk nicht als gewichtigen Teil des Problems zu sehen. Der Mann hat Menschen, die nicht in sein Weltbild passten, das Leben schwerer gemacht. Und er hat einem Politiker zur Macht verholfen, der den Staat derzeit autoritär umbaut und einen Krieg gegen diverse Bevölkerungsgruppen führt. Politische Gewalt hat verschiedene Formen, Maga ist die derzeit mächtigste.

Dass Trump und seine Bewegung Kirks Tod nun nutzen, um neue Repressionen gegen Andersdenkende zu entfesseln, ist nur logisch. Sie wollen den Ausnahmezustand. Sie brauchen die Feinde. Der Täter war noch gar nicht gefunden, da sprach der Präsident schon davon, dass die «radikale Linke» schuld am Attentat sei. Etliche rechte Figuren legten sich in der Folge darauf fest, dass amerikanische Unis ebenso eine Verantwortung trügen, weil gute Jungs dort vermeintlich zu Killern indoktriniert würden. Das Weisse Haus hat inzwischen offiziell angekündigt, progressive Gruppen zu zerschlagen. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das alles längst nichts mehr zu tun.


Die Parallelen zur McCarthy-Ära in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als linke und Schwarze Aktivist:innen systematisch überwacht, ihre Strukturen mit Gewalt zerstört wurden, werden inzwischen von den Akteur:innen selbst gezogen. Der einflussreiche Maga-Aktivist Christopher Rufo sagte vor wenigen Tagen, dass es an der Zeit sei, wie unter dem damaligen FBI-Chef J. Edgar Hoover vorzugehen, also über Infiltration und Verhaftungen. Wer sich in den USA als links versteht, dem oder der sollen solche Ansagen Angst machen. Und das tun sie auch schon. Ich spüre die Unruhe derzeit in vielen Gesprächen, unter Kolleginnen und Freunden. Worauf muss man sich vorbereiten, gedanklich und auch bürokratisch? Was kommt auf uns zu?

Politische Gewalt kommt in den USA überwiegend von rechts. Die Statistiken zu Anschlägen sprechen eine deutliche Sprache, genauso die Verteilung von Waffen im Land. Vom Anschlag im Sommer 2017 in Charlottesville, als ein Faschist sein Auto in eine Menge Demonstrierender fuhr, über den Sturm auf das Kapitol 2021 bis zu den mörderischen Attentaten auf zwei demokratische Politiker:innen in Minnesota im Juni dieses Jahres – es waren dezidiert Rechtsextreme, die hier Gewalt ausübten. Letztlich weiss das auch die Trump-Regierung; anders lässt sich kaum erklären, dass das Justizministerium vor ein paar Tagen eine Studie von seiner Website verschwinden liess, die genau das zeigte. Die Asymmetrie der politischen Gewalt ändert sich auch nicht dadurch, dass der mutmassliche Mörder in Utah offenbar auch aus Wut über Kirks Transfeindlichkeit vorging. Linksmotivierte Anschläge gibt es, aber sie bleiben eine Ausnahme.

Verstehen lässt sich politische Gewalt sowieso nur, wenn man über einzelne Aktionen hinausschaut: wenn man sich bewusst macht, wie Gewalt diesen Staat von Anfang an geformt hat und bis heute den Takt angibt – der Genozid gegen die indigene Bevölkerung, die Sklaverei und die Jim-Crow-Ära, die vielen inländischen und ausländischen Kriege, der Waffenkult, das Grenzregime, die fehlenden Sozialnetze, der Casinokapitalismus; dazugekommen sind rohe Onlinewelten. Nur mit Berücksichtigung all dieser Kontexte lässt sich eine ernsthafte Diskussion über politische Gewalt führen. Und zu dieser Diskussion gehört dann eben auch die Wahrheit, dass politische Gewalt ebenso aus der Mitte kommt und dass sie durch überparteilich unterstützte Gesetze und Institutionen entsteht.


Als ich in den vergangenen Tagen über Gewalt in den USA nachdachte, fiel mir immer wieder eine Situation ein, die ich im August 2023 in einer Kleinstadt in Mississippi erlebt hatte. Ich fuhr damals mit dem Auto auf eine Kreuzung zu und sah, dass ein Unfall passiert war, offenbar kurz zuvor. Ein weisser Pkw lag auf der Seite, blinkende Lichter, aufgebrachte Menschen. Ich hielt an und eilte zu den Passant:innen, die sich bereits um die Verletzten, eine hispanische Familie, kümmerten.

Der Fahrer, ein junger Mann, sass auf dem Bürgersteig und hielt sich seinen rechten Oberschenkel, der eine Beule hatte, wie ich es noch nie gesehen hatte, als wäre der Knochen zur Hälfte durch und würde nun nach aussen drücken. Als nach ein paar Minuten die Polizei ankam, merkte ich, wie der Mann seinen Oberschenkel nicht mehr hielt, sondern die Beule versteckte. Es war offensichtlich, dass er nicht wollte, dass die Beamten seine Verletzung entdeckten, und es war offensichtlich, warum. Wer keine gültigen Papiere hat, muss bei einem Krankenhausbesuch nicht nur von einer wahnwitzigen Rechnung ausgehen, sondern in Bundesstaaten wie Mississippi auch eine Abschiebung befürchten.

Ich dachte damals und denke heute, dass das die politische Gewalt ist, über die zu selten geredet wird. Würde das Alltägliche so viel Aufmerksamkeit bekommen wie das Spektakel, wären wir an einem anderen Punkt. Wie hat Walter Benjamin gesagt? Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe.