Rechtsextremismus: Er wollte bloss debattieren
Ein vergeudeteres Leben als dasjenige Charlie Kirks sei nur sehr schwer vorstellbar, schrieb ein Nutzer auf der Plattform X lapidar – kein allzu pietätvoller Nachruf auf den ermordeten Influencer, aber geradezu Ausweis politischen Urteilsvermögens verglichen damit, wie das Attentat auf Kirk andernorts kommentiert wurde. Michèle Binswanger etwa verklärte den Getöteten zum Musterbeispiel dafür, wie demokratische Debatten zu führen seien. Mit ihrer verqueren Würdigung des Rechtsextremen stand die Tamedia-Journalistin nicht alleine da.
Kirks Karriere als ultrareaktionäre Propagandaschleuder begann 2012, als er einen Artikel für das Portal Breitbart verfasste: Schüler:innen würden angeblich von Staats wegen links indoktriniert. Den Text verwendete er für eine Rede an einer katholischen Hochschule, die einen vermögenden Geschäftsmann aus dem Umfeld der Tea Party derart beeindruckte, dass er mit ihm die Organisation Turning Point USA gründete. Finanziell grosszügig alimentiert, schürte Kirk fortan den Kulturkampf auf dem Campus; zu seinem Arsenal zählte dabei auch die Denunziation missliebiger Professor:innen auf einer eigens zu diesem Zweck eingerichteten Website.
Bald wurde er zu einer der wichtigsten Stimmen der US-Rechten – und zum Intimus Donald Trumps. Bis zu seiner Ermordung ätzte Kirk gegen Feministinnen, bediente rassistische Ressentiments, verbreitete antisemitische Verschwörungstheorien.
Warum also gilt so einer SRF als «konservativer Kommentator» und «politischer Aktivist»? Nicht besser machten es die Kolleg:innen weiter nördlich, die Kirk auf tagesschau.de als Podcaster, der für «konservative Werte» geworben habe, bezeichneten – eine bemerkenswerte Umschreibung für jemanden, der Schwangerschaftsabbrüche mit dem industriellen Massenmord in Auschwitz verglichen hatte. Vermutlich zeigt dies vor allem, wie sehr im Service public die Furcht vor Empfindlichkeiten rechts aussen Einzug gehalten hat.
Das mediale Trauerspiel war damit nicht zu Ende. Ähnlich wie Binswanger halluzinierte Peter Hossli im «SonntagsBlick», Kirk habe «Politik im besten Sinne des Wortes» praktiziert. Weiss der Leiter der Ringier-Journalistenschule nicht, dass der Getötete Busfahrten für die Trump-Fans, die 2021 in Washington einen Putschversuch unternahmen, organisiert hatte? Zu gross scheint die Verlockung, der Selbstdarstellung der extremen Rechten zu folgen, derzufolge man ja nur ein bisschen diskutieren wolle – etwa über angeblichen «Rassismus gegen Weisse» oder eine Konspiration zum Zwecke eines «Bevölkerungsaustauschs».
Es zeugt von Ahnungslosigkeit, nicht zu registrieren, dass Kirks politisches Geschäftsmodell darauf beruhte, effekthascherische Inhalte zu produzieren, die beweisen sollten, dass den Ansichten eines Rassisten und Antifeministen argumentativ angeblich nicht beizukommen sei. Abseits der grossen Medien sprangen Einzelpersonen in die Bresche, indem sie lesenswerte Hintergründe lieferten. Die deutsche Autorin Berit Glanz etwa wies in einem Blogeintrag die Unfähigkeit vieler Redaktionen nach, Codes aus dem Internet zu lesen, die der Schütze auf die Patronen geritzt hatte, weswegen sie vorschnelle Interpretationen derselben unkritisch reproduzierten. Auch der US-Journalist Ryan Broderick entschlüsselte in seinem Newsletter Referenzen des Täters unter anderem auf Videospiele und gab damit Einblicke in die notorisch ironische Meme-Kultur im Netz.
Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Privatnachrichten des Attentäters veröffentlicht, die nahelegen, dass der junge Mann dem Irrglauben verfallen war, Kirks Hassreden mit Waffengewalt Einhalt gebieten zu müssen. Noch ist vieles unklar. Fest steht aber, dass einmal mehr Zeichenspiele aus dem Internet reale Mordtaten begleiteten, offenkundig mit dem Ziel, wiederum dort möglichst viel Resonanz zu erzeugen. Derweil scheinen viele in der guten, alten analogen Welt vor allem damit beschäftigt, Legenden über Rechtsextreme weiterzuspinnen, anstatt Dinge beim Namen zu nennen.