Durch den Monat mit Scorpio (Teil 4): Hat Ihr Chef davon gewusst?
Scorpio habe ihm geholfen, in der Detailhandelslehre für sich selber einzustehen, sagt der zwanzigjährige Basler Alain Gelabale. Eine Bäckerlehre hatte er zuvor wegen rassistischer Anfeindungen abbrechen müssen.
WOZ: Alain Gelabale, welches sind die schönsten Momente im Alltag als Detailhändler?
Alain Gelabale: Ich arbeite in einer eher kleinen Filiale eines Grossverteilers. Da kommt man manchmal mit Kund:innen ins Gespräch, oft mit älteren Menschen. Es gibt einen Stammkunden, für den ich mir immer etwas Zeit nehme, um zu plaudern. Als ich mal sagte, ich sei grad nicht so fit, hat er mir ein Buch ausgeliehen. Das sind die schönen Momente: Wenn jemand deine Arbeit wertschätzt, obwohl niemand wirklich weiss, was du eigentlich genau machst.
WOZ: Erwischt. Können Sie uns sagen, was Ihr Beruf alles umfasst?
Alain Gelabale: Wir schauen, dass immer alles da ist. Wir wissen über Hunderte Produkte Bescheid: Wo gehören sie hin, was ist drin, worin unterscheiden sie sich? Ich bin für die gesamte Lebensmittelabteilung zuständig, vom frischen Gemüse bis zu den Tiefkühlprodukten. Da muss ich über alle Ablaufdaten Bescheid wissen, schauen, dass im Regal die älteren Sachen vorne und die neueren hinten eingeräumt sind. Wenn etwas fehlt, kommen schnell Reklamationen.
WOZ: Von wem?
Alain Gelabale: Nicht selten leider von Kund:innen. Ich kriege oft zu hören: «Ihr müsst schneller sein!» Manche reagieren hässig, wenn es Änderungen im Sortiment gibt, aber dafür kann ich ja nichts. Auf Dauer macht das unglaublich müde. Eigentlich mag ich den Beruf, ich stelle jeden Tag Nahrungsmittel für Menschen bereit. Ich gebe sehr viel, damit die Sachen schön aufbereitet sind. Wenn du dann grundlos angestresst wirst, ist das verletzend. Während der Lehre, die ich vor einem Jahr abgeschlossen habe, kam noch hinzu: An Weihnachten und Ostern hatte ich eine Feriensperre, weil da immer viel los ist. Das geht gar nicht. Während der Ausbildung kannst du nur in den Schulferien freinehmen – so hast du praktisch keine Auswahlmöglichkeiten mehr.
WOZ: Wünschen Sie sich manchmal, Bäcker geworden zu sein? Sie haben mit fünfzehn eine Lehre angefangen, aber nach acht Monaten abgebrochen.
Alain Gelabale: Zwischendurch schon, denn ich mag es, für mich allein zu arbeiten. Ich brauche Zeiten, in denen ich nicht reden muss. Das gibt es im Detailhandel kaum. Dafür sind die Arbeitszeiten besser, und meine Erfahrungen während der Bäckerlehre waren sehr schlimm.
WOZ: Was ist passiert?
Alain Gelabale: Ich wurde richtig runtergemacht. Wegen meines jungen Alters – und auch rassistisch. Ich war in einer kleinen Bäckerei in einem Basler Vorort, und ich merkte schnell, dass zwei Mitarbeiter mich gar nicht mochten. Sie kritisierten alles, was ich machte. Wenn mir etwas nicht gelang, schmissen sie das Brot vor mich hin und sagten: «Was ist das? Findest du das schön? Machs neu!» Sie benutzten manchmal gar das N-Wort; nannten mich ihren Sklaven, lachten mich aus, wenn ich schwere Mehlsäcke aus dem Keller hochschleppen musste. Eine andere Lernende haben sie sexistisch beleidigt.
WOZ: Hat Ihr Vorgesetzter davon gewusst?
Alain Gelabale: Ja, mein Chef wusste alles. Meine Mutter rief ihn an, weil ich depressiv war und nicht mehr arbeiten gehen wollte. Er sagte mir, der Mitarbeiter sei halt seit dreissig Jahren da, ich müsse eben lernen, mit seiner Art umzugehen.
WOZ: Die Lernendenbewegung Scorpio gab es damals noch nicht. Wie wurden Sie Teil davon?
Alain Gelabale: Vor etwa zwei Jahren, als ich im zweiten Lehrjahr im Detailhandel war, machte mich eine Freundin via Instagram auf Scorpio aufmerksam. Ich nahm all meinen Mut zusammen und schrieb ihnen, dass ich eine Scheisszeit in der Bäckerlehre gehabt hatte. Sie luden mich gleich zu einer Sitzung ein.
WOZ: Wie war es, Ihre Erlebnisse mit fremden Leuten zu teilen?
Alain Gelabale: Bis dahin hatte ich nie so richtig darüber gesprochen. Es war meine erste rassistische Erfahrung, und ich dachte: Das ist die Arbeitswelt – so ist es halt, wenn du älter wirst. An der Scorpio-Sitzung waren etwa zehn Leute, und alle reagierten total schockiert und nachdenklich. Erst da merkte ich: Aha, ist das so schlimm? Das war megakrass – und megaschön. Es hat auch geholfen, von den schwierigen Erfahrungen der anderen zu hören. Seither bin ich dabei, und ich würde sagen: Scorpio hat mir die Kraft gegeben, um in der zweiten Lehre stärker für mich selber einzustehen. Denn eigentlich bin ich ein schüchterner Mensch.
WOZ: Seit Ihrem Lehrabschluss machen Sie zudem eine Berufsmatur. Wo zieht es Sie hin?
Alain Gelabale: Nächsten Sommer schliesse ich die BM ab, dann werde ich Soziale Arbeit studieren. Das Finanzielle macht mir noch Sorgen, ich bin kürzlich zu Hause ausgezogen. Ich wollte, dass meine jüngere Schwester ihr eigenes Zimmer bekommt, und meine Mutter kann sich keine grössere Wohnung leisten. Gerade ist alles sehr streng mit Schule und Arbeit. Vor dem Studium werde ich zudem ein Praktikum machen müssen und sehr wenig verdienen … Aber wenn ich etwas will, ziehe ich es auch durch.
WOZ: Und bei Scorpio werden Sie weiterhin mittun?
Alain Gelabale: Ja, voll. Es bedeutet mir viel, Sachen zu organisieren. Und Leute zu unterstützen, wenn sie sich in schwierigen Situationen befinden.
Eigentlich habe er sich mal vorgenommen, im Detailhandel immer weiter aufzusteigen, sagt Alain Gelabale. Mittlerweile hätten sich seine Prioritäten aber verschoben.