Postkoloniale Studien: In den Nebenschauplatz verbissen

Nr. 39 –

Die NZZ stellt einen einzelnen Wissenschaftler an den Pranger und unterstellt ihm unsauberes Handwerk. Dabei arbeitet sie selbst mit fragwürdigen Methoden.

Diesen Artikel hören (8:03)
-15
+15
-15
/
+15

Den Kulturkampf von rechts gegen unliebsame Wissenschaften, allen voran die postkolonialen Studien, beackert die NZZ seit Jahren leidenschaftlich. Nun hat sie den Ton noch verschärft: In einem ganzseitigen Bericht schiesst sie gegen einen einzelnen Wissenschaftler, der den Kopf für die Verunglimpfung eines Forschungszweigs hinhalten muss.

Vordergründig geht es dabei um einen Streit, der sich schon eine Weile hinzieht. Durch die Black-Lives-Matter-Bewegung ab 2020 in den Fokus gerückt, wird auch in der Schweiz zum Teil heftig über koloniale und rassistische Darstellungen im öffentlichen Raum diskutiert. Etwa im Zürcher Niederdorf: Wie kann ein zeitgenössischer Umgang mit den Hausnamen «Zum Mohrenkopf» und «Zum Mohrentanz» aussehen? Um diesen Diskussionen eine Grundlage zu geben, erteilte die Stadt Zürich der ETH 2021 den Auftrag, einen Bericht zu den beiden Inschriften zu erarbeiten. Die Historiker:innen Bernhard C. Schär und Ashkira Darman gehen darin der Geschichte der Liegenschaften nach und untersuchen, welche Bedeutung «Mohren»-Begriffe und -Symbole in der Stadt Zürich im Verlauf der Geschichte hatten.

Ihr Bericht kommt unter anderem zum Schluss, dass die beiden Häuser zwar schon seit dem Mittelalter ihre Namen trugen, die Inschriften an der Aussenwand im einen Fall aber erst im 19., im anderen im 20. Jahrhundert angebracht wurden. Weiter zeigen die Autor:innen, dass der Begriff und die Symbolik des «Mohrs» in Zürich immer schon eine vorwiegend abwertende Konnotation hatten.

Gutachten und Gegengutachten

Der Bericht bestätigte den Zürcher Stadtrat im Vorhaben, die Inschriften reversibel zu verdecken, also so, dass die Bausubstanz dabei nicht beschädigt wird. Der Zürcher Heimatschutz reichte darauf beim Baurekursgericht erfolgreich Beschwerde ein; nach dem Gang durch alle Instanzen wies im Juli dieses Jahres das Bundesgericht die Beschwerde des Heimatschutzes aus formalen Gründen ab. Die Inschriften dürfen definitiv verdeckt werden.

Im Zuge dieses Prozesses verfasste der Historiker Martin Illi im Auftrag des Zürcher Heimatschutzes ein Gegengutachten zum ETH-Bericht, das die NZZ Anfang September aufgriff. Das Gutachten liegt der NZZ vor, ist sonst aber nicht veröffentlicht. Anfragen der WOZ bei Martin Illi und dem Heimatschutz, das Gutachten einzusehen, wurden abgelehnt mit dem Verweis, es handle sich dabei um Prozessakten. Die Argumentation kann also nur mittels NZZ-Berichterstattung nachvollzogen werden. Illis Kritikpunkte demnach: Darman und Schär hätten ein Familienwappen unkorrekt zugeordnet sowie einen Familiennamen verwechselt, ihre Interpretation fusse also auf falschen Annahmen. Somit könne dem Namensgeber keine rassistische Intention nachgewiesen werden.

Simon Teuscher, Professor für Allgemeine Geschichte des Mittelalters, kritisiert grundsätzlich, dass das Illi-Gutachten nicht öffentlich zugänglich ist. Die Verwechslung des Familiennamens bezeichnet er als «Nebenschauplatz»: Allen Historiker:innen passierten bei der Quelleninterpretation ab und zu Fehler, das sei so weit normal und Teil kollektiver Wissenserarbeitung. «Abgesehen davon geht es in der Sache nicht primär um die Schuld von Individuen, also um intentionalen Rassismus, sondern um kulturellen Rassismus, der in der Sprache und der kulturellen Praxis enthalten ist. Das ist es, was die ETH-Studie mit vielen validen Beispielen deutlich macht.»

Ein neues Bild der Schweiz

So weit, so unspektakulär. Trotzdem kramte Rico Bandle, frischgebackener Feuilletonchef, den Fall zwei Wochen später erneut hervor. Diesmal, um direkt auf Koautor Bernhard C. Schär zu zielen. Unter dem Titel «Der Professor, der überall Rassismus sieht» wirft er dem Historiker und gelegentlichen WOZ-Autor vor, er arbeite wissenschaftlich unsauber und stark politisch motiviert. Er bemüht noch einmal Illis Kritikpunkte, als weiteres Beispiel nennt er zudem die Aussagen der im Juni verstorbenen Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin zu Schärs Buch «Tropenliebe». Darin war Schär der Geschichte der Basler Naturforscher Paul und Fritz Sarasin und deren kolonialen Verstrickungen nachgegangen. Hauser-Schäublin, selbst Angehörige des Basler Daigs, beschrieb das Vorgehen im Buch in der rechtskonservativen «Basler Zeitung» als «Sarasin-Bashing» und unterstellte Schär «selektives Lesen» der Quellen. Auch André Holenstein, emeritierter Professor für ältere Schweizer Geschichte, kommt in Bandles Text zu Wort: Schär wolle Unliebsames aus der Geschichte tilgen.

Ein beliebter Vorwurf, gerade in der NZZ. Dabei ist sie es selbst, die den Eindruck macht, manche Forschungszweige am liebsten ganz weghaben zu wollen. Die postkolonialen Studien etwa – ein in verschiedenen Disziplinen beheimatetes und weitverzweigtes Feld –, die Bandle in einen einzigen Topf wirft. «Es wird zusammengezurrt, was nicht zusammengehört», kontert Brigitte Studer, emeritierte Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern. Studer hat Schärs Dissertation betreut, aus der das Buch «Tropenliebe» entstanden ist. Die Studie sei in der Fachwelt sehr gut aufgenommen worden. Schär habe zudem in führenden internationalen Zeitschriften über das Thema publiziert, während sich Bandle dagegen auf die Aussage einer einzelnen Wissenschaftlerin stütze. «Schär ist ein Exponent eines Forschungsansatzes, der Machtverhältnisse kritisch beleuchtet und mit dem ein neues Bild der Schweiz produziert wird – das scheint manche zu verärgern.»

Politisch hochgekocht

Fragwürdige Methoden? Die verwendet Bandle offensichtlich selbst. Den journalistischen Grundsatz etwa, die Person zu konfrontieren, gegen die man schwere Vorwürfe erhebt, hat er nicht eingehalten: Wie aus einem Mailverkehr hervorgeht, der der WOZ vorliegt, hat Bandle Schär zwar den früheren in der NZZ erschienenen Text zu den Hausinschriften vor der Publikation geschickt, ihn aber nicht mit den Vorwürfen in seinem eigenen konfrontiert. Auch in das Gutachten von Martin Illi hat Schär keinen Einblick erhalten. Er wird deswegen beim Presserat Beschwerde gegen die NZZ einreichen. Auf Anfrage der WOZ sagt Bandle, es seien ja keine neuen Vorwürfe, die er erhebe, er habe nur die Aussagen von anderen wiedergegeben.

Inzwischen wurde auf Initiative der Universität Lausanne ein offener Brief verfasst, in dem sich rund hundert Professor:innen und Dozierende, darunter auch Studer und Teuscher, mit Schär solidarisieren. Den Brief haben bis Redaktionsschluss 350 weitere Personen, vor allem Universitätsangehörige, unterschrieben. Auch seitens Professor:innen der ETH und der Uni Zürich zirkuliert seit gestern ein Protestbrief.

Was den Umgang mit kompliziertem Kulturerbe angeht, hat es die NZZ wieder einmal geschafft, eine eigentlich marginale wissenschaftliche Diskussion politisch über Wochen hinweg hochzukochen. Simon Teuscher sagt, er begreife nicht, wieso sie sich zusammen mit dem Heimatschutz in diese Inschriften verbeisse, die im späten 19. Jahrhundert beziehungsweise erst in den dreissiger Jahren angebracht wurden. «Es gibt im Umgang mit rassistisch konnotiertem Kulturerbe durchaus Fälle, wo es Zielkonflikte gibt, die kompliziert sind und interessant zu diskutieren. Diese mediokren Dekoelemente gehören definitiv nicht dazu.»