Kost und Logis: Darf ich das einfach schön finden?
Bettina Dyttrich isst schon wieder im Engadin
Es gibt Orte im Engadin, die sind herausgeputzt bis zum Gehtnichtmehr. Aber nicht Lavin. Das Dorf ist 1869 abgebrannt. Italienische Bauleute haben es neu aufgebaut: zeitlos schöne Häuser mit fast flachen Dächern, viel Raum dazwischen. Keine Schellenursli-Idylle. Solche Häuser stehen auch in Zernez, und doch wirkt Lavin ganz anders: Hier wachsen überall Wildblumen am Strassenrand, Vogelbeer- und Wildrosensträucher statt Thujahecken. Ich finde das sehr schön, aber auch etwas verdächtig: Hat sich hier genau meine Bubble versammelt? Jene Bildungsbürger:innen, denen wilde Ecken und Risse im Verputz gefallen? Die Häuser gern so renovieren, dass man das Alte noch sieht? Darf ich das einfach schön finden, oder muss ich pausenlos darüber nachdenken, woher das Kapital stammt, das in diesen Häusern steckt?
Das Hotel Linard Lavin am Dorfplatz ist auch so renoviert, dass man das Alte noch sieht. Und ja, ich finde es sehr schön. Das Haus hat von Künstler:innen gestaltete grosse Zimmer und etwas günstigere, kleinere. Halbpension mit Viergangmenü ist Standard und sinnvoll: Es gibt kein weiteres Restaurant mehr im Dorf. Die Küche orientiert sich an Region und Saison; als Hauptgang gibt es an diesem Abend gebackenen Tschigrunkäse mit Polenta und Bohnen oder Gamsrücken mit Kürbis, Pastinaken und Trauben. Das Brot ist sehr gut, der Kaffee auch. Von Lavin aus lässt es sich in alle Richtungen wandern, gemütlich oder hochalpin, aber man muss nicht: Zum Haus gehören Garten, Bibliothek und Kunstausstellung, manchmal gibt es Jazzkonzerte. Wer länger bleibt, bekommt Rabatt.
«Wir sind ein wichtiger Teil des Gewerbes, brauchen regionale Lebensmittel, und unsere Gäste kaufen sie auch», sagt Hotelier Hans Schmid. Ein Dorf brauche auch einfach einen Ort, wo man eine warme Suppe essen könne. «Und einen Stammtisch.»
In den letzten Jahren ist das Unterengadin zum internationalen Kunsthotspot geworden. Der Verein Anna Florin stemmt sich gegen die durch den Zweitwohnungsboom verschärfte Wohnungsnot (siehe WOZ Nr. 9/24). Auch Schmid ist Mitglied im Verein. Die vielen Events führten zu einer «punktuellen Massierung», die das Tal strapaziere und den ausgeglichenen Einsatz der Mitarbeitenden erschwere, sagt er.
Sicher profitiert auch das Hotel vom Kunstboom. Die Widersprüche lassen sich nicht auflösen. Jedenfalls ist es ein Kulturort – nicht nur wegen Jazz und Bibliothek. Auch weil es ein Ort zum Lesen, Faulenzen und In-die-Sonne-Schauen ist, nicht hinter einer Thujahecke, sondern in dieser Halböffentlichkeit im Garten oder auf der Terrasse, wo vielleicht auch ein Gespräch entsteht, Zeitungen geteilt und Wandertipps ausgetauscht werden. Alles sehr privilegiert, ja. Aber wer Geld hat, investiere es besser in das Schöne als in das Zerstörerische.
Nach zwanzig Jahren möchte Hans Schmid das Hotel im Frühling 2026 weitergeben. Hoffentlich gelingt das.
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin. Wer das «Linard Lavin» übernehmen will, findet mehr Infos auf www.ottomesi.ch.