Kino: «Ich liebe es, wenn der Körper mitspielen darf»
Eine schwierige Geburt und mondäne Kleider: Die in Basel aufgewachsene Schauspielerin Marie Leuenberger ist derzeit in zwei Kinofilmen zu sehen.

WOZ: Marie Leuenberger, Sie spielen oft – wie man früher gern gesagt hat – «starke Frauenfiguren». Liegt das am Typecasting, also daran, dass Sie auf diese Rollen festgelegt wurden, oder an einer persönlichen Vorliebe?
Marie Leuenberger: Wahrscheinlich beides. Es ist nicht so, dass ich mir aus unzähligen Drehbüchern die mit den «starken Frauenrollen» heraussuche. Wobei dieser Ausdruck ja zu Recht problematisiert wird. Warum sollte man die «Stärke» betonen? Weil Frauen das «schwache Geschlecht» sind? Und wären «starke Männerrollen» analog dazu jene, die «schwach», also verletzlich sind? Zu Ihrer Frage: Ich bekomme Drehbücher aufgrund meiner früheren Rollen empfohlen. Wenn ich dann beim Lesen an die Geschichte andocke, also mit den Figuren mitfühle, ist das für mich ein «Go».
WOZ: Wie war das bei «Mother’s Baby» von Johanna Moder? Sie spielen eine Dirigentin, die mit der Geburt ihres Babys völlig aus der Bahn geworfen wird. Sie haben ja selbst zwei Kinder.
Marie Leuenberger: Mir hat gefallen, dass der Film all diese Verunsicherungen, die nach der Geburt auftreten, zum Thema macht. Während neun Monaten wird man eng betreut und überwacht – und dann sitzt man plötzlich alleine zu Hause. In einem fliessen Milch und komische Hormone, die einen benebeln, und es stellen sich all diese Fragen: Wer bin ich als Mutter? Wer ist dieses Kind? Wie reagiert mein Partner? Und wie reagiere ich als Mutter auf meinen Partner? Dieses Bild vom glücklichen «Baby da, Ziel erreicht» ist immer noch weitverbreitet. Dabei sieht die Realität ganz anders aus. Besonders als Mutter erfährt man einen totalen Identitätswechsel.
WOZ: Um einen Identitätswechsel geht es nun auch in «Stiller», nur dass es hier eine schwache Männerfigur trifft. In Stefan Haupts Max-Frisch-Verfilmung spielen Sie Stillers Geliebte Sibylle. Woran konnten Sie bei ihr andocken?
Marie Leuenberger: Ich mag ihre Stärke (lacht), ihre Klarheit und ihre Konsequenz. Sibylle ist eine Frau, die aus den Strukturen, die sie unzufrieden machen – Stichwort «Ehe» – einfach ausbricht. Sie sucht das Abenteuer und schreckt nach der Affäre auch nicht davor zurück, in diese Ehe zurückzukehren, deren Strukturen sie durch den Ausbruch zu ihren Gunsten verändert hat.
WOZ: «Stiller» spielt in den 1950er Jahren. Mal abgesehen vom individuellen Charakter: Wie verwandelt man sich in jemanden aus einer Zeit, in der man selbst nicht gelebt hat?
Marie Leuenberger: Mit Kostümen. In «Stiller» gibt es grossartige, mondäne Kleider, Blusen und Strickjacken. Sie laden einen förmlich dazu ein, sich anders zu benehmen und zu bewegen. Gerade Frauenkleider von früher sind oft einengend und zwingen einen zu einer bestimmten Haltung. In «Die göttliche Ordnung» von Petra Volpe war das auch so: diese Schühchen, das Kopftuch, die Handtasche … Die Kostüme machen die «Historie».
WOZ: Ihre Figuren haben oft körperliche Herausforderungen zu meistern: die schwere Geburt in «Mother’s Baby» oder die Entdeckung des eigenen Geschlechtsorgans in «Die göttliche Ordnung» – und in Ihrer wohl coolsten Rolle, in Thomas Arslans eigenwilligem Gangsterfilm «Verbrannte Erde», steuern Sie hyperkonzentriert einen Fluchtwagen.
Marie Leuenberger: Ja, ich liebe das, wenn der Körper mitspielen darf. Dadurch entsteht oft eine weitere Spielebene, zusätzlich zu den Dialogen: Mal angenommen, ich müsste jetzt dringend pupsen, will das aber vermeiden, weil es mir wahnsinnig peinlich wäre (rutscht betont unauffällig auf dem Sofa herum und lehnt sich leicht verklemmt nach hinten). Dann würde das Gespräch zwar genau so verlaufen, aber ich könnte noch was dazu spielen, und so was interessiert mich. Das hat mir an «Mother’s Baby» so gut gefallen: wie schon das Drehbuch eine körperliche Realität miterzählt, die in Filmen sonst eher vernachlässigt wird und die einem ja auch im echten Leben selten ganz bewusst ist. Besonders deutlich wird das in der Szene nach der Geburt, wenn sich die Protagonistin mit gespreizten Beinen – gerade wurde ihr Damm genäht – überwinden muss, einfach auf die Liege zu machen, weil sie noch nicht aufstehen darf.
WOZ: Im deutschen Fernsehen scheinen Sie einen Dauervertrag als Ermittlerin in Krimiserien zu haben, zuletzt etwa in der Horror-Mystery-Serie «Was wir fürchten». Haben Sie eine Schwäche für düstere Genres?
Marie Leuenberger: Nicht wirklich. Die Deutschen lieben einfach Krimis. Es gibt extrem viele Drehbücher, die das Format bedienen. Bei «Was wir fürchten» hat mich die Story überzeugt. Die Unbeirrbarkeit, mit der meine Figur in diesem sexistischen, homophoben Ort aufräumt, kommt ihr im Umgang mit ihrer angstkranken Tochter in die Quere. Ich persönlich wünsche mir aber eigentlich mehr Sozialdramen wie den Fernsehfilm «Wir für immer» über eine komplexe Mutter-Sohn-Beziehung. Darin gibt es keine Toten und Verletzten, und alle Figuren sind auf ihre Weise immer beides: stark und schwach zugleich.
«Mother’s Baby» läuft unter anderem noch in Heiden, Rapperswil, Romanshorn und St. Gallen.
«Stiller»: Unter Verdacht
Für alle, die Max Frischs Klassiker geschwänzt oder vergessen haben: Ein Mann (Albrecht Schuch), der sich James Larkin White nennt, wird bei seiner Einreise in die Schweiz verhaftet, weil man in ihm den verschollenen, polizeilich gesuchten kommunistischen Zürcher Bildhauer Anatol Stiller (Sven Schelker) erkannt zu haben glaubt. Angehörige und frühere Freunde bestätigen den Verdacht. White aber besteht darauf, nicht Stiller zu sein.
Im Roman wächst sich diese Identitätsverwirrung zu einer Abrechnung mit männlichen Rollenerwartungen in der engstirnigen Schweiz der 1950er Jahre aus – sexistische und rassistische Ressentiments inbegriffen. In der Verfilmung von Stefan Haupt wird daraus ein romantischer Krimiplot: Um White geständig zu machen, konfrontiert ihn der Staatsanwalt mit Stillers Ehefrau Julika (Paula Beer) und seiner eigenen Frau Sibylle (Marie Leuenberger), die mit Stiller eine Affäre hatte.
Man muss schon stark pusten, um aus dem verstaubten Selbst- und Weltschmerz der Vorlage ein aktuell relevantes Thema freizulegen. Regisseur Stefan Haupt macht es sich deshalb lieber in den Wollmäusen scheinbar zeitloser Geschlechterdynamiken bequem: Voller Selbsthass missgönnt Stiller seiner Frau den Erfolg auf der Ballettbühne und ist auch seiner selbstbewussten Affäre nicht gewachsen.
Die interessantere Frage des Romans – wer bestimmt eigentlich, wer wir sind, und wie viel haben wir selbst dabei mitzureden? – gerät in den Hintergrund. Dafür bleibt viel Zeit, all die aufregenden Kleider (Kostüme: Monika Schmid) des auch ein bisschen unterfordert wirkenden Casts zu studieren: Bubikragen, Lederjacken, Wollkaros. Noch der letzte Statist in der hintersten Ecke des auf fünfziger Jahre getrimmten Niederdorfs taugt zur Inspiration für ein Max-Frisch-Outfit-Refresh der beginnenden Herbst-Winter-Saison.
«Stiller». Regie: Stefan Haupt. Schweiz/Deutschland 2025. Vorpremieren ab 9. Oktober 2025, ab 16. Oktober 2025 im Kino.