Film: Der reine Irrsinn
«The Secret Agent» erzählt vom blutigen Karneval und dem unheilvollen Alltag während der Militärdiktatur in Brasilien.
Die Geschichte, informiert uns eine Texttafel, spiele im Brasilien des Jahres 1977, einer Zeit von «grossem Unheil». Während es in der englischen Übersetzung «mischief» – also etwa: «boshafter Unfug» – heisst, ist das Wort im brasilianisch-portugiesischen Original nur schwer zu übersetzen: «pirraça». Ein Wutanfall, das trotzige Herumtoben eines Kindes kann damit beschrieben werden, oder aber, wie der Regisseur Kleber Mendonça Filho im Gespräch erklärt: «Seine Zeit mit etwas zu verschwenden, das man für lustig hält, bei dem es sich aber eigentlich um eine Aggression handelt.»
So also wird zu Beginn von «The Secret Agent» die Zeit der Militärdiktatur in Brasilien charakterisiert, als zwischen 1964 und 1985 Hunderte ermordet und Tausende gefoltert wurden. Die Wortwahl, räumt Mendonça ein, sei eigentümlich, eine Art provokative Untertreibung, die in Brasilien Diskussionen ausgelöst habe. Aber er habe sich ganz bewusst dafür entschieden. Mendonças neuer Film ist voll mit solchen Details, die auf den ersten Blick irritieren, auf den zweiten aber eine Art paradoxe Stütze in dem ganzen Chaos darstellen.
Über allem schwebt die Paranoia
Wie «pirraça» aussieht, demonstriert «The Secret Agent» gleich in seiner fulminanten ersten Szene: Da liegt vor einer Tankstelle irgendwo im Niemandsland zwischen São Paulo und Recife die blutige Leiche eines Mannes. Ein Bandit, den er vor mehreren Tagen habe erschiessen müssen, weil ihn dieser ausrauben wollte, erklärt der anwesende Tankwart dem Fahrer des gelben VW-Käfers namens Marcelo (Wagner Moura). Es sei halt gerade Karnevalszeit, die Polizei habe Wichtigeres zu tun. In diesem Moment kreuzen zwei Polizisten auf. Statt sich für die Leiche zu interessieren, beginnen sie sofort damit, Marcelos Auto zu inspizieren und ihn auszufragen. Als sie nichts zu beanstanden finden, bitten sie Marcelo um eine «Spende», geben sich enttäuscht mit einer angefangenen Schachtel Zigaretten zufrieden und ziehen wieder von dannen, während die Leiche vorerst weiter in der Sonne schmort.
Der Rest des fast dreistündigen Films spielt in Recife und ist nicht minder surreal. Der Karneval dauert eine Woche, bis zu dessen Ende wird mit etwa hundert Toten gerechnet. Alkohol und Drogen, Eifersucht und Waffen sowie eine Geheimpolizei, die das Chaos für ihre eigenen Zwecke missbrauchte – «vor fünfzig Jahren war das der reine Irrsinn», sagt Mendonça, der selber aus Recife stammt und den Karneval eigentlich mag.
In solch wilder Szenerie findet sich also der Protagonist wieder, der in Wahrheit nicht Marcelo heisst. Zusammen mit anderen politisch Verfolgten findet er Unterschlupf in einer konspirativen Wohnung, wo er auf gefälschte Pässe wartet, die er benötigt, um mit seinem kleinen Sohn das Land verlassen zu können. Im Kino verbreitet währenddessen «Der weisse Hai» Angst und Schrecken, ein monströses Bein macht im Park Jagd auf Homosexuelle, und ein korrupter Beamter hat zwei Auftragsmörder auf Marcelo angesetzt. Metaphern vermischen sich mit Träumen und werden zu Geschichte, Kugeln fliegen, Blut fliesst, und über allem schwebt die Paranoia, nur knapp in Schach gehalten vom Humor und der Solidarität unter den Verfolgten.
Fetisch Militärdiktatur
Als Filmerlebnis gestaltet sich «The Secret Agent» weniger aufgeregt, als all das vermuten liesse. Der Film nimmt sich viel Zeit, um seine von Bossa Nova und Samba getragenen Stimmungen, seine Ausstattung – der Vorführraum eines alten Kinos, die allgegenwärtigen gelben Telefonkabinen! – und vor allem seine Nebenfiguren atmen zu lassen. Im Hintergrund regiert der Karneval, der Wirklichkeit näher als der unheilvolle Alltag der Diktatur, bestimmt von der Paranoia, den Euphemismen und all den «Ertrunkenen», die in Wahrheit schon tot waren, bevor sie das Wasser berührten – so jedenfalls der Befund eines Pathologen nach der Untersuchung eines Beins, das im Magen eines angespülten Hais gefunden wurde.
Als Mendonça noch am Drehbuch arbeitete, dachte er, dass dieses Mal vielleicht die Attacken «all dieser schrecklichen Leute von rechts» ausbleiben würden, die seine früheren Filme «Aquarius» oder «Bacurau» begleiteten. Immerhin spiele der Film ja fünfzig Jahre in der Vergangenheit, ohne direkten Bezug zur Gegenwart. Doch diese Hoffnung sei natürlich naiv gewesen, für die heutige Rechte in Brasilien sei die Zeit der Militärdiktatur «ein regelrechter Fetisch». Es sei wie bei alten Leuten, die sich ihre besten Jahre zurückwünschten – nur eben mit Panzern auf der Strasse und verhafteten und gefolterten Kommunist:innen.
Die vergangenen zehn Jahre in Brasilien seien schockierend gewesen, sagt Mendonça: «Die Leute kämpfen immerzu gegen die Realität. Sie ärgern sich, weil ihr Nachbar schwul ist oder sie plötzlich das Gefühl haben, dass Impfungen gefährlich seien.» Diktatoren, das seien jene, die versuchten, eine Gesellschaft ausschliesslich nach ihren eigenen Vorstellungen zu formen, ohne zu verstehen, dass alle Leute, egal wie verschieden, das gleiche Recht auf Gesundheit, Bildung und Respekt hätten. So ist «The Secret Agent» nicht zuletzt eine Hommage an all jene, denen dieses Recht aufgrund des Unfugs von anderen nicht vergönnt ist.
«The Secret Agent». Regie: Kleber Mendonça Filho. Brasilien / Frankreich / Niederlande /Deutschland 2025. Jetzt im Kino.