Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Krieg? Doch nicht in Europa!

Wäre es bei diesem ersten Mal geblieben, man hätte es vielleicht als Bagatelle abtun können. Bundespräsident Ignazio Cassis über den Krieg in der Ukraine am 28. Februar an der Medienkonferenz des Bundesrats: «Schauen Sie, das ist die grösste Verletzung des Völkerrechts seit dem Zweiten Weltkrieg.» Wie war das? Sprach hier ein Insulaner, der sich, gerade erst aus seiner luftdichten Wohlstandsnarkose aufgewacht, auf die grosse historische Bühne verirrt hatte? Oder war das wirklich nur ein momentanes Versehen, ein kurzer Aussetzer der weltpolitischen Erinnerung?

Die weiteren Indizien sprechen dagegen. Zwei Tage später nämlich doppelte Bundesrätin Viola Amherd im Tagesgespräch bei «SRF News» nach, wobei sie den geopolitischen Rahmen einiges enger zog als Cassis: «Wir haben seit achtzig Jahren in Europa keine kriegerische Auseinandersetzung mehr gehabt.» Krieg? Doch nicht in Europa! Und tags darauf ihre Amtskollegin Karin Keller-Sutter bei «10 vor 10», mit nur leicht verschobenen Nuancen, nachdem sie gerade noch den Jugoslawienkrieg erwähnt hatte: «Wir haben den ersten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg, der alle berührt und alle sehr besorgt. Es sind Europäerinnen und Europäer, die praktisch [unsere] Nachbarn sind.»

Nun könnte es natürlich sein, dass das bloss rhetorisches Kalkül ist, um eigene Aufrüstungspläne zu legitimieren. Oder ist tatsächlich fast der halbe Bundesrat von kollektiver Amnesie befallen? Wenn dem so sein sollte, hätten wir ja wirklich Grund zur Sorge. Aber auch jenseits solcher Ferndiagnosen ist es bedenklich genug, was uns dieser kleine Reigen der Geschichtsvergessenheit zu verstehen gibt: Der Balkan mit Exjugoslawien gehört offenbar schlicht nicht zu Europa (die Krim und die Ostukraine sowieso nicht).

Oder aber, was kein bisschen besser wäre, die Regierung spricht allen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, hier in der Schweiz und auch anderswo, einfach mal kollektiv deren Kriegserfahrung ab. Und falls das damals doch ein Krieg gewesen sein sollte, dann höchstens einer, der, in den Worten von Keller-Sutter, halt längst nicht alle «berührt und besorgt» hatte.