Keller-Sutters Lob: Sehr schweizerischer Opportunismus
Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter fand die Münchner Rede des neuen US-Vizepräsidenten J. D. Vance «liberal». Hinter der empörenden Aussage stecken Kalkül und Tradition.

Zeus du Grand St. Bernard (links) und dessen Tochter Lio. Foto: Allessandro della Valle, Keystone
Der neue US-Vizepräsident J. D. Vance hatte letzte Woche seine ersten offiziellen Auftritte in Europa. Und verärgerte und schockierte an der Münchner Sicherheitskonferenz sogleich viele der europäischen Teilnehmer:innen. In seiner zwanzigminütigen Ansprache spielte die Ukraine keine Rolle, sicherheits- und geopolitische Überlegungen fehlten. Es war eine Kulturkampfrede und vor allem eine unverhohlene Wahlempfehlung für die rechtsextreme deutsche AfD – eine Woche vor den Wahlen im Gastgeberland.
Im Saal anwesend war auch die Schweizer Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter. Sie kannte J. D. Vance bereits – zumindest als Autor. Im letzten Herbst sagte sie in einem Gefälligkeitsinterview in einer NZZ-Sonderbeilage des rechtsliberalen Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP), sie habe gerade «Hillbilly-Elegie» gelesen – die autobiografischen Erinnerungen des US-Vizepräsidenten über das Aufwachsen im Rust Belt. Das Bücherlesen «schärft den Blick und bringt einen auf neue Ideen», sagte Keller-Sutter damals. In Vances Münchner Rede erkannte sie allerdings nur Altbekanntes: Diese sei «sehr liberal» gewesen und «in einem gewissen Sinne sehr schweizerisch, weil er sagt, man solle auf die Bevölkerung hören», meinte die FDP-Bundesrätin gegenüber «Le Temps».
Für Oligarchen statt für Geflüchtete
Auf den ersten Blick wirken die Aussagen von Keller-Sutter schockierend. Vance, der den europäischen Staaten Einschränkungen der Meinungsfreiheit vorwirft, ist selbst Teil einer von Techmilliardären dominierten US-Regierung, die in rasendem Tempo demokratische Prozesse und Institutionen demontiert, den Liberalismus zum feindlichen System erkoren hat und offensiv den Schulterschluss mit rechtsextremen Parteien in anderen Staaten sucht. Bei näherer Betrachtung stehen die Aussagen der Bundespräsidentin aber in einer sehr schweizerischen Tradition des aussenpolitischen Opportunismus. Schon immer hat die Schweiz im Zweifel geschäftliche Interessen höher gewichtet als klare politische Haltungen. Davon zeugen etwa die engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Nazideutschland oder Geschäfte mit dem Apartheidregime in Südafrika.
Der Opportunismus prägt auch das aktuelle Handeln beziehungsweise Nichthandeln der Schweiz im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Schon ganz zu dessen Beginn, am 24. Februar 2022, als die EU umgehend erste Sanktionen beschloss, wollte FDP-Aussenminister Ignazio Cassis zunächst nichts davon wissen. An einer Medienkonferenz lief er einfach aus dem Saal, wo verdutzte Journalist:innen und Expert:innen zurückblieben. Erst nach starkem Druck aus dem Ausland gab der Bundesrat fünf Tage nach der Invasion die Übernahme der EU-Sanktionen bekannt.
Als Beispiel ist auch das äusserst zögerliche Einfrieren von Oligarchengeldern zu nennen (siehe WOZ Nr. 8/23). Diese sollen, sofern die entsprechenden Personen und Unternehmen sanktioniert sind, gesperrt und später für den Wiederaufbau der Ukraine genutzt werden, der gemäss Weltbank rund 440 Milliarden Franken kosten wird. Ende 2023 – neuere Zahlen sind derzeit nicht verfügbar – hatte die Schweiz gerade einmal 5,8 Milliarden Franken an Oligarchengeldern eingefroren, bei einem geschätzten Vermögen russischer Staatsbürger:innen auf hiesigen Banken von 150 bis 200 Milliarden.
Am Wiederaufbau der Ukraine will sich der Bundesrat lieber auf andere Weise beteiligen und stellt in den nächsten vier Jahren 1,5 Milliarden Franken für die Ukraine bereit – allerdings gänzlich aus dem Budget für internationale Zusammenarbeit und damit auf Kosten des Globalen Südens. Der Clou: Ein Drittel dieses Geldes – also 500 Millionen – soll an Schweizer Unternehmen gehen, die in der Ukraine wirtschaften, um mit sichtbarer «Swissness» Werbung für die Schweizer Wirtschaft zu machen (siehe WOZ Nr. 37/24).
Auch bei der Weitergabe von Waffen, die einst aus der Schweiz an Drittstaaten geliefert wurden, pochte der Bundesrat auf eine buchstabengetreue Neutralität. Das Unverständnis der europäischen Staaten, das er damit auf sich zog, war mit ein Grund dafür, dass die Schweiz immerhin zwei Konferenzen für die Ukraine organisierte, 2022 in Lugano und 2024 auf dem Bürgenstock.
Werkzeugmaschinen für Putin
Neben der Regierung übte sich auch das Parlament in helvetischem Egoismus. Im letzten Frühling lehnte es eine Motion der Grünen ab, die einen Beitritt zur internationalen Taskforce zum Aufspüren russischer Oligarchengelder (Repo) forderte. Umgekehrt nahm das Parlament kurz vor Weihnachten eine Motion an, die den Schutzstatus S für aus der Ukraine Geflüchtete einschränkt.
Den wohl gravierendsten opportunistischen Vorstoss des letzten Jahrzehnts verantwortet ausgerechnet Karin Keller-Sutter. Nach der Krim-Annexion im März 2014 setzte der Bundesrat gegenüber Russland zunächst auf eine restriktive Exportpraxis in Bezug auf Dual-Use-Güter, insbesondere Werkzeugmaschinen – sehr zum Missfallen der Rüstungsindustrie. Ende 2015 reichte die damalige Ständerätin Keller-Sutter eine Interpellation ein, in der sie die verschärfte Exportpraxis kritisierte (siehe WOZ Nr. 34/22). Der Bundesrat unter Federführung des damaligen FDP-Wirtschaftsministers Johann Schneider-Ammann weichte darauf im Februar 2016 die Bestimmungen zur Ausfuhr von Dual-Use-Gütern an zivil-militärische Mischbetriebe in Russland komplett auf. Und sorgte dafür, dass bis heute Schweizer Werkzeugmaschinen die russische Rüstungsproduktion am Laufen halten.