Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

«Bei jeder Aufführung kreuze ich die Finger»

Auch Soldaten kommen zur Aufführung: Das Publikum im Lessja-Ukrajinka-Theater.

Am ersten Kriegstag schloss das Nationaltheater in Kyjiw seine Türen. Nun hat es sie als erste Kultureinrichtung wieder geöffnet. Ein Besuch bei Regisseur Kirill Kaschlikow.

Auf dem Schreibtisch von Kirill Kaschlikow im Nationaltheater in Kyjiw, benannt nach der neuromantischen Dichterin Lessja Ukrajinka, liegt das Stück «Ferryman». Die Proben liefen wie geplant, auch am Dienstag, den 22. Februar. Knapp über einer Stunde hat die Probe gedauert, steht auf dem Skript geschrieben. Zwei Tage später sollte wieder eine stattfinden. Doch dazu kam es nicht. Dort, wo normalerweise die Dauer der Probe steht, befindet sich ein Strich: Kriegsbeginn in der Ukraine.

Kaschlikow und seine Familie wachen an diesem Morgen zu Raketeneinschlägen auf der anderen Seite des Flusses Dnipro auf, der Kyjiw in zwei Hälften teilt. Der Klang der Detonation hat Kaschlikow, seine Frau und die zehnjährige Tochter geweckt. «Im ersten Augenblick war ich nur verwirrt», sagt Kaschlikow. Er hatte nicht daran geglaubt, dass der Krieg nach Kyjiw kommen würde. «Bisher kannte ich Krieg nur aus dem Fernsehen», sagt er.

Trotz des Angriffs fährt Kaschlikow an diesem Morgen ins Lessja-Ukrajinka-Theater. Im Auto fragt er sich noch, ob die Vorstellung am Abend stattfinden könne. Er erreicht das Theater um neun Uhr, tauscht Informationen mit Freund:innen und Kolleg:innen aus. Nach kurzer Zeit ist ihnen klar: Die Vorstellung am Abend wird nicht stattfinden.

Die Familie wohnt jetzt im Theater

Sieben Wochen nach Beginn der russischen Invasion tobt der Krieg in der Ukraine weiter. Im Moment liegt der Fokus der Kampfhandlungen 700 Kilometer vom Lessja-Ukrajinka-Theater entfernt, im Donbas im Osten des Landes. Prognosen, dass Kyjiw innert Tagen fallen würde, haben sich als Fehleinschätzung erwiesen.

Sechs Wochen belagerten russische Truppen die Vororte rund um Kyjiw, doch sie konnten die Stadt nicht einnehmen. Zurück bleibt eine Spur der Verwüstung: In den Vororten Irpin und Butscha werden nach wie vor Leichen aus den Massengräbern gehoben. Nach dem Untergang des russischen Kriegsschiffs Moskwa detonieren wieder vermehrt Raketen in der Hauptstadt.

Ist man in den Strassen von Kyjiw unterwegs, begegnet man trotzdem dem Alltag: Cafés und Restaurants haben geöffnet, Spaziergänger:innen sind im Park anzutreffen. Und auch im Nationaltheater finden wieder Vorführungen statt.

Das Lessja-Ukrajinka-Theater ist eines der grössten und erfolgreichsten Theater in der Ukraine. Ukrainische und russische Stücke, aber auch Weltklassiker etwa von Arthur Miller wurden bis vor Kriegsbeginn gespielt. An die sechzig Stücke hatte das Theater im Repertoire. «Es gibt etwas in meinem Herzen, das nicht sterben wird», heisst es in einem Glaskasten vor dem Theater. Ein Zitat der Namensgeberin Ukrajinka.

In der ersten Kriegswoche konnte Regisseur Kaschlikow nicht mehr zum Theater fahren. Die Brücken über den Dnipro waren vom ukrainischen Militär gesperrt worden. Bis am 1. März eine der Brücken wieder geöffnet wird. Kaschlikow steigt ins Auto und entschliesst sich, ins Theater zu ziehen. «Der Kapitän muss auf seinem Schiff bleiben», meint er. Seine Frau und seine Tochter bittet er, das Land zu verlassen. Doch sie bestehen darauf, in der Stadt zu bleiben. Auch sie ziehen im Theater ein.

Während der wochenlangen Belagerung versuchen sie, ihren Alltag so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Kaschlikow arbeitet in seinem Büro. Sind die Sirenen einmal still, wagt sich die Familie zu kleinen Spaziergängen auf die Strasse.

Innert Stunden ausverkauft

Am 9. April öffnen sich die hellbraunen Bogentüren des Theaters wieder. Es ist die einzige Kultureinrichtung der Stadt, die wieder Gäste empfängt. Warum das möglich ist? Zum einen gibt es mehrere Ausgänge, die als Fluchtwege dienen können. Zum anderen liegt eine U-Bahn-Station nur wenige Meter vom Theater entfernt. Für die meisten Menschen sei das Theater somit sicherer als ihr eigenes Haus, sagt Kaschlikow. Er meint das nicht als Scherz.

Das Video von der Eröffnung am 9. April zeigt Kulturminister Oleksandr Tkachenko im grünen Militärhemd gemeinsam mit Kaschlikow auf der Bühne. Tkachenko spricht darüber, welche Aufgabe die Kultur in den Zeiten des Krieges hat. Sie gebe den Menschen die Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten und Wunden zu heilen.

Am Abend der ersten Aufführung hätten nicht nur die Zuschauer:innen, sondern auch die Darsteller:innen nach der Aufführung geweint, erzählt Kaschlikow. Dabei war es nicht einfach, die Vorstellung zu organisieren. Teile des Ensembles sind geflohen, andere wurden in den Militärdienst eingezogen. Stücke wurden kurzerhand umgeschrieben oder mit weniger Schauspieler:innen besetzt.

Zwei Stunden nach Ankündigung der ersten Vorstellung auf Facebook waren die Karten ausverkauft. Kaschlikow öffnet seinen Laptop und scrollt durch die nächsten Vorführungen. «Hier am Samstag gibt es nur noch einen Platz.» Die Eröffnung des Theaters bedeute nicht, dass der Krieg vorbei sei, sagt er. «Im Gegenteil: Bei jeder Aufführung kreuze ich meine Finger, in der Hoffnung, dass keine Rakete einschlägt.» Und er fügt hinzu: «Solange noch Krieg im Osten des Landes ist, kann Kyjiw nicht zur Normalität zurückkehren.»

Ein Wort wird noch gesucht

An einem Sonntag im April blicken die Zuschauerinnen und Zuschauer gebannt auf die Bühne. Sie sitzen im zweitgrössten Saal des Theaters. Aus Sicherheitsgründen darf der grösste noch nicht geöffnet werden. Die 130 Plätze sind fast alle besetzt, nur in der ersten Reihe bleiben vereinzelte Sitze frei.

Auf der Bühne wird «Die Melodie von Warschau» gespielt, eine Liebesgeschichte über einen Soldaten, der sich in der Sowjetunion in eine junge Polin verliebt. Das Stück spielen ein Schauspieler und eine Schauspielerin vor einem einfachen Bühnenbild. Doch das tut der Stimmung keinen Abbruch. Kaum jemand spricht, das Publikum schaut gebannt zu.

Als der Applaus verklungen ist, strömen die Menschen heiter aus dem Saal. Viele lachen, halten sich gegenseitig am Arm und sprechen über das gerade Erlebte. Das klassische Bildungsbürgertum ist gekommen, aber auch junge Menschen, Soldat:innen, auffallend viele Frauen.

Eine von ihnen, die 32-jährige Olga, ist Bauingenieurin. Eine türkis gefärbte Haarsträhne fällt ihr beim Sprechen ins Gesicht. Das erste Mal seit Kriegsbeginn sei sie wieder im Theater. Geliebt habe sie es schon immer. Als sie sah, dass Karten verkauft wurden, schlug sie sofort zu. Sie wollte wissen, wie es sich nun anfühlen würde.

Olga hält einen Augenblick inne. Nein, eine Rückkehr in die Normalität sei es trotzdem nicht. Vielleicht müsse man ein neues Wort für das momentane Lebensgefühl in Kyjiw erfinden. Wie sie es nennen würde, das weiss sie nicht.

Zurück in Kaschlikows Büro: An der Wand mit der goldenen Tapete hängen Fotografien von vergangenen Aufführungen. Auf seinem dunklen Schreibtisch liegt ein Kalender; die Einträge werden wieder mehr. «Die Aufgabe des Theaters ist es, die Menschen an ihre Menschlichkeit zu erinnern. Denn sonst hat das Theater versagt.»