Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Ein Meister der Verdrehung

Innenpolitische Beschwichtigung statt aussenpolitische Provokation: Wladimir Putin gibt sich bei der Militärparade zum 9.  Mai zurückhaltender als erwartet.

Während zehn Minuten hatte Wladimir Putin die gebannte Aufmerksamkeit der gesamten Welt. Und dieser erklärte er dann auf dem Roten Platz in Moskau, dass sich Russland heute in einer vergleichbaren Situation befinde wie damals vor 77 Jahren, am Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. «Die Verteidigung des Vaterlands zu einem Zeitpunkt, an dem dessen Schicksal in der Schwebe hängt, ist immer heilig», sagte er.

Den Angriffskrieg gegen die Ukraine schilderte er als präventiven Erstschlag, als Verteidigungsmassnahme gegen eine bevorstehende US-Aggression. «Die Gefahr stieg von Tag zu Tag», sagte Putin, und der Kampf gegen «die Neonazis» in Kyjiw sei folglich unausweichlich gewesen.

«Notwendig, rechtzeitig und die einzig richtige Lösung» sei deshalb die Offensive am 24. Februar gewesen. Im Vergleich mit den vielen Szenarien für den 9. Mai, über die in den letzten Tagen und Wochen spekuliert worden war, wirken diese Worte defensiv, fast schon rechtfertigend. Schon früh war dieser «Tag des Sieges» über Nazi-Deutschland als eine Art Stichdatum gehandelt worden. Putin müsse bis dahin einen Sieg vorzuweisen haben, um diesen mit militärischem Pomp zelebrieren zu können. Als der Tag schliesslich da war, der militärische Erfolg hingegen nicht, wurde umso intensiver debattiert: Was wird Putin jetzt tun?

Keine Generalmobilmachung

Er werde die Gebietsgewinne im Osten und Süden des Landes als erreichtes militärisches Hauptziel verkaufen, lautete eine der Mutmassungen. Er werde in den besetzten Regionen eine neue «Volksrepublik» nach Vorbild von Luhansk und Donetsk ausrufen, lautete eine andere. Er werde eine neue Kriegsphase einläuten, hiess es auch, wobei er sich direkt an die Nato richten und ihr mit Atomangriffen drohen könnte. Putin werde eine offizielle Kriegserklärung aussprechen, so eine weitere Befürchtung: gegen die Ukraine, oder auch gegen bestimmte Nato-Mitgliedsstaaten. Ein solcher Schritt, weg von der «militärischen Spezialoperation» hin zum erklärten Kriegszustand, würde eine Generalmobilmachung und die Einziehung Hunderttausender Reservist:innen ermöglichen.

Nun scheinen jene richtig gelegen zu haben, die zu einer anderen Einschätzung gekommen waren: Der Druck, heute Siegesreden halten und Ankündigungen machen zu müssen, sei für Wladimir Putin gar nicht gross gewesen. Weil er mit seiner Propagandamaschinerie ohnehin über das Wahrheitsmonopol in Russland verfüge, sei die Haltung der Bevölkerung formbar, auch entgegen einer enorm verlustreichen Realität.

Imperiale Machtprojektionen

Tatsächlich klang Putins Rede auf dem Roten Platz eher nach innenpolitischer Beschwichtigung denn nach aussenpolitischer Provokation. Die Form, in der die Feierlichkeiten zum 9. Mai in Russland heute begangen werden, hat er massgeblich selbst geprägt: Er war es, der den «Tag des Sieges» verstärkt politisierte, der ihn zum Tag militärischer Machtdemonstration modellierte, und der ihn letztlich als Projektionsfläche für erinnerungspolitische Verdrehungen und Verkehrungen nutzt.

Dem Selbstverständnis nach befindet sich Putin auf einer historischen Mission, er will eine nationale Kränkung heilen, Russland den einstigen Platz in der Ordnung der Weltmächte wieder verschaffen. In diesen weltgeschichtlichen Dimensionen ist die Bezugnahme auf den 9. Mai von zentraler Bedeutung: Das Ende des «Grossen Vaterländischen Kriegs» im Jahr 1945 dient als überaus grobe Schablone, um alles seither Geschehene einzuordnen – wodurch sich alle als «Nazis» zeichnen lassen, die in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs und darüber hinaus als «Feinde Russlands» in Erscheinung traten.

Das spiegelt sich in der imperialen Machtprojektion wider, die im Überfall auf die Ukraine am 24. Februar mündete. Die abtrünnige einstige Sowjetrepublik solle «entnazifiziert» werden, so die innenpolitische Legitimationsgrundlage: Putin als Vollbringer einer unvollendeten historischen Mission. Gerade die Verunglimpfung der Ukraine als Nazi-Hort ist besonders bizarr; die damalige Sowjetrepublik war einer der schlimmsten Schauplätze des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, in dem auch mehrere Vorfahren des heutigen Präsidenten Wolodymyr Selenski ermordet wurden.

Spiel mit der Aufmerksamkeit

Nun waren es russische Einheiten, die in den ersten Kriegstagen die Holocaustgedenkstätte Babyn Jar in Kyjiw beschossen. Und es war der russische Aussenminister Sergei Lawrow, der sich letzte Woche antisemitisch äusserte. In seiner Rede zum 9. Mai sagte Putin nun, man ehre in Russland «alle, die den Nazismus und den Militarismus bekämpft haben», um sich dann an die russischen Truppen in der Ukraine zu wenden, die für die Zukunft Russlands kämpften, und folglich «dafür, dass es keinen Platz gibt für Nazisten und Verräter auf der Welt».

Die erwarteten Siegeserklärungen und Ankündigungen blieben hingegen aus. Angesichts der vielen Eskalationsszenarien ist das fürs Erste eine Erleichterung – insbesondere für die kriegsbetroffenen Menschen in der Ukraine. Gleichzeitig haben die letzten Wochen aber auch gezeigt: Genauso wie das Spiel mit Erinnerungen und Symbolik beherrscht Wladimir Putin auch das Spiel mit Aufmerksamkeit und Erwartungen. Dieses wird er weitertreiben, genau wie auch den Krieg gegen die Ukraine.