Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Grosse Pläne, grosse Interessen

Eine 75 Jahre alte Erfolgsformel soll die Ukraine in eine europäische Zukunft führen: Wird es einen «Marshallplan» für das kriegsversehrte Land geben? Der Begriff allein garantiert jedenfalls noch keine Ergebnisse.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geht in seinen fünften Monat, ein Ende ist nicht in Sicht. Dennoch machen sich die ukrainische Regierung und ihre internationalen Partner:innen bereits über den Wiederaufbau des Landes Gedanken. Eine ganze Reihe von Politikerinnen, Regierungsbeamten und Akademikerinnen haben mittlerweile einen Marshallplan für die Ukraine gefordert, etwa der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung letzte Woche.

Ein Wirtschaftswunder für Europa

Sein Besuch in der Ukraine habe ihn an die Bilder von zerstörten deutschen Städten nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, sagte Scholz, und er schlug damit einen direkten Bogen zum ursprünglichen Marshallplan. Der US-amerikanische Aussenminister George C. Marshall hatte vor ziemlich genau 75 Jahren, im Juni 1947, das European Recovery Program (ERP) vorgeschlagen, um Europa wiederaufzubauen. Im Rahmen dieses Hilfsprogramms flossen zwischen 1948 und 1952 über 13 Milliarden US-Dollar (inflationsbereinigt würde das heute etwa 160 Milliarden US-Dollar entsprechen) an sechzehn europäische Staaten: in Form von Zuschüssen, Krediten, Waren, Rohstoffen und Lebensmitteln. Unter den Empfängern waren Grossbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland. Der Marshallplan ermöglichte Europa ein Wirtschaftswunder, begünstigte den Aufbau demokratischer Strukturen – und bescherte den USA neue Absatzmärkte.

Der Begriff «Marshallplan» wird heute oft verwendet, wenn nach grossen Verheerungen riesige Aufgaben anstehen: etwa angesichts der Covid-Pandemie oder der Klimakrise. Auch während des Syrienkriegs wurde wiederholt ein Marshallplan für den Wiederaufbau gefordert, bis heute kam ein solcher jedoch nicht zustande.

Anfang Mai schätzte die ukrainische Regierung die Kosten für den Wiederaufbau auf 600 Milliarden US-Dollar. Die Summe dürfte seither noch viel grösser geworden sein. Wer aber soll die erforderlichen Hilfspakete finanzieren – insbesondere in Anbetracht der wirtschaftlichen Einbussen, die Corona auf der ganzen Welt verursacht hat, wie auch angesichts des Anstiegs der Energie- und der Lebensmittelpreise, der alle Länder betrifft? Und wie soll ein solcher Marshallplan für die Ukraine konkret aussehen?

Hilfe und Reformagenda

Die Ukraine selbst kann den Wiederaufbau nicht stemmen, sie ist bankrott. Der Krieg hat zu einem Einbruch der Steuer-, der Export- und sonstiger Einnahmen geführt, während die Ausgaben für Militär und Sozialwesen in die Höhe geschnellt sind. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte in diesem Jahr um geschätzte fünfzig Prozent sinken, die Steuereinnahmen um bis zu achtzig Prozent. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass der ukrainische Staatshaushalt im Juni ein Defizit von fünfzehn Milliarden US-Dollar aufweist.

Auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski fordert eine moderne Version eines Marshallplans für die Ukraine. Für Olga Stefanishyna, die stellvertretende Premierministerin, müsste ein solcher zwei zentrale Elemente umfassen: «Einerseits benötigen wir finanzielle Unterstützung während des Krieges, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Andererseits soll der Wiederaufbau der Ukraine den Weg zum EU-Beitritt ebnen, durch Reformen und politische Integration.» Stefanishyna nahm zum Wochenbeginn an einer Paneldiskussion zum Marshallplan für die Ukraine teil, organisiert von der unabhängigen amerikanischen Stiftung The German Marshall Fund of the United States. Dort betonte auch Odile Renaud-Basso, Präsidentin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, dass der ukrainische Staat bereits jetzt Hilfe brauche, um seine Dienstleistungen finanzieren zu können. «Je besser die Wirtschaft aufrechterhalten wird, desto weniger werden wir für den Wiederaufbau benötigen», sagte Renaud-Basso.

Ein Marshallplan für die Ukraine werde viel umfangreicher ausgestaltet und viel schneller umgesetzt werden müssen als jener nach dem Zweiten Weltkrieg, sagte Renaud-Basso zudem. Und es sei zentral, dass in dessen Rahmen auch Herausforderungen bezüglich Rechtsstaatlichkeit, Korruption, Oligarchie und Justizsystem angegangen würden. «Der EU-Kandidatenstatus der Ukraine ist ein starker Anker für diese Reformagenda», hielt Renaud-Basso fest.

Der Plan der EU

Das sieht die EU-Kommission genauso. Mitte Mai hat sie einen ersten Plan zum Wiederaufbau der Ukraine vorgelegt. Nach diesem soll ein Land geschaffen werden, das «in den europäischen Werten verankert» und in die europäische und die globale Wirtschaft integriert ist. Der Kommission schwebt eine enge Partnerschaft zwischen ukrainischen Behörden, der EU, den G7-, G20- und Drittstaaten sowie internationalen Finanzinstitutionen vor. Eine «Plattform für den Wiederaufbau der Ukraine» soll lanciert werden, um die Anstrengungen zu koordinieren – unter Federführung der Ukraine.

Gemäss der EU-Kommission sollen die Investitionen im Einklang mit der europäischen Klima- und Umweltpolitik stehen sowie den Digitalisierungszielen der EU entsprechen. Schlussendlich solle die Ukraine sogar gestärkt und robuster aus den Verwüstungen der russischen Invasion hervorgehen.

Bloss fragt sich, ob die genannten Akteure überhaupt dazu bereit sind, die gigantischen finanziellen Ressourcen bereitzustellen, die dafür nötig sind. Zudem bedienen Wiederaufbauprogramme immer auch Eigeninteressen; es werden immense Summen öffentlicher Gelder gesprochen, die für gewisse Industriezweige lukrative Geschäfte in Aussicht stellen. Und gleichzeitig nutzen Geberländer und -institutionen die Möglichkeit, ein Land in eine gewünschte wirtschaftspolitische Richtung zu lenken. Auch der ursprüngliche Marshallplan war letztlich vor allem ein politischer Versuch, die europäische Integration zu fördern und insbesondere den Kommunismus zurückzudrängen – ganz im Eigeninteresse der USA.