Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Die haben einen Plan

Die ukrainische Delegation überrascht bei der Wiederaufbaukonferenz in Lugano mit einem detaillierten Vorschlag.

Was war im Vorfeld nicht alles spekuliert worden: Boris Johnson könnte kommen, der britische Premier, oder Olaf Scholz, der deutsche Kanzler. Und allenfalls sogar Wolodimir Selenski persönlich, es wäre der erste Auslandsbesuch des ukrainischen Präsidenten seit dem Angriff von Russland auf sein Land gewesen.

Doch die prominenten Gäste blieben aus, bald schon war in den Medien von einem B-Anlass die Rede. Als die Ukraine-Recovery-Konferenz an diesem Montag startet, regnet es zu allem Übel auch noch ins Tessiner Ferienpanorama hinein. Es kann nur besser werden.

Cassis glücklos

Nachdem sich die Staats- und Regierungschef als erste Amtshandlung zum obligaten Gruppenbild vor dem Lago di Lugano aufgereiht haben, beginnen drinnen im Saal die Reden. Ignazio Cassis startet, und man hätte ihm hier bei seinem Heimspiel wirklich etwas Glück gewünscht.

Doch Cassis bilanziert schon zu Beginn, dass die Konferenz im Rückblick ein Meilenstein gewesen sein wird. Dann zitiert er noch Hermann Hesse. Wir wissen, er hat auch einmal im Tessin gelebt. Es kann wirklich nur besser werden. Und das wird es auch.

Live aus Kyjiw zugeschaltet spricht nun Wolodimir Selenski. In seiner Rede wird schnell klar: Die Ukrainer:innen haben ihre Arbeit gemacht – und einen Plan zum Aufbau des Landes nach Lugano mitgebracht, den sie hier erstmals präsentieren.

Klingt verrückt

Selenski spannt in seiner Ansprache einen grossen Bogen: «Das ist kein Krieg irgendwo im Osten. Sondern ein Angriff auf die gesamte demokratische Welt. Ein terroristischer Staat prüft das demokratische System.» Die Angriffe auf zivile Ziele, auf Schulen oder Spitäler, zeigten: «Russland will nicht nur Mauern zerstören, sondern das friedliche Zusammenleben.»

Gerade deshalb sei es wichtig, bereits jetzt den Wiederaufbau zu planen, führt Selenski aus: als Zeichen, dass eine demokratische Gesellschaftsordnung stärker sei. Dieser Wiederaufbau werde nicht nur der Ukraine helfen. «Er wird auch die Europäische Union erneuern und die freie Welt vereinen.»

Es klingt durchaus verrückt. Aber die ukrainische Regierung sieht das tatsächlich so: Aus dem Krieg heraus soll ein neues Land entstehen, eine neue Gesellschaft begründet werden, wie es sie noch nicht gibt: digital, ökologisch, gesellschaftlich der Zeit voraus. Aber auch neoliberal offen für private Investitionen und Konzerne. «Ich lade Sie alle in die Ukraine ein!», schliesst Selenski.

Oligarchen enteignen

Premierminister Denys Schmyhal, der in Lugano zu Gast ist, erklärt darauf in groben Zügen den Plan: Zuerst soll direkte Nothilfe im Krieg geleistet werden, dann soll die zerstörte Infrastruktur wiederaufgebaut, schliesslich sollen die langfristigen Ziele für eine Reform des Staates umgesetzt werden. 21 Bände umfasst der Plan, 3000 Expert:innen im In- und Ausland haben mitgewirkt. Die Entstehungsgeschichte im Detail nachgezeichnet hat die ukrainische Ausgabe des Wirtschaftsmagazins «Forbes».

Aus Schweizer Sicht lässt vor allem ein Punkt aufhorchen: Finanziert werden soll der schätzungsweise 750 Milliarden teure Wiederaufbauplan unter anderem mit der Enteignung von russischen Oligarchen, deren Gelder im Ausland liegen. Positiv erwähnt Schmyhal in diesem Zusammenhang Grossbritannien und Deutschland. Über die Schweiz schweigt er sich aus.

In Lugano wird die ukrainische Delegation in den nächsten beiden Tagen versuchen, möglichst viele Teilnehmer:innen von ihrem Plan zu überzeugen. Dabei wird sie vor allem auch an die eigene Bevölkerung denken müssen: Die hörte heute ebenfalls zum ersten Mal von den Ansätzen des Lugano-Plans. Umwelt-NGOs und Gewerkschaften haben bereits angekündigt, dass sie längst nicht mit allem einverstanden sind.