Brian Wilsons «Smile» : Das Ganze von vorne

Vor 38 Jahren arbeitete der Chef-Beach-Boy monatelang am berühmtesten Rockalbum, das nie herauskam. Jetzt hat er das bizarre Werk mit jüngeren Musikern komplett neu aufgenommen.

Diese Musik klang anders als alles, was sie bisher gehört hatten, und sie wussten nicht, was sie davon halten sollten. Die sonderbaren Songs, mit denen Brian Wilson die Beach Boys im Herbst 1966 konfrontierte, waren Lichtjahre entfernt von den Hymnen an schnelle Autos und kalifornische Mädchen, mit denen die Gruppe berühmt geworden war.

Zwar hatte Brian Wilson mit dem Album «Pet Sounds» und der Single «Good Vibrations» einen kaum zu übertreffenden Grad an studiotechnischer Perfektion erreicht. Aber das reichte ihm nicht. Er wollte der Welt zeigen, wie weit man sich als Rockmusiker vom gängigen Rocksong entfernen kann. Er wollte mehr als den kommerziellen Erfolg im Teeniemarkt, er wollte den Respekt der Hipszene. Zusammen mit dem eigenwilligen Songschreiber Van Dyke Parks (und eingedeckt mit Haschisch im Wert von 2000 Dollar) komponierte Brian Wilson komplex strukturierte Songs mit schwer verständlichen Texten, zu denen man nicht tanzen konnte. Statt Elektrogitarren holte er ein Orchester mit Streichern, Bläsern, Cembalo, Vibraphon, Banjo, Feuerwehrsirenen, Karotten und anderen Instrumenten ins Studio.

Doch Brian Wilsons Ideen wichen allzu weit von den konservativen Vorstellungen der anderen Beach Boys ab. Sie hatten nicht gemerkt, dass die Zeit der Surfmusik abgelaufen war. «Was zum Teufel soll das bedeuten?», motzte Leadsänger Mike Love, als er die Zeile «Over and over the crow cries uncover the cornfield» singen sollte. «Ich weiss es nicht, Mike», entgegnete der frustrierte Van Dyke Parks und warf den Bettel hin. Auf sich allein gestellt, sah Brian Wilson keine Chance, den Widerstand seiner Band zu überwinden. Mike Love zu feuern, war offenbar keine Option, und so brach Wilson im Frühling 1967 die Arbeit an «Smile» ab, obwohl die meisten Stücke fertig waren und die Plattenfirma bereits 400 000 Plattenumschläge hatte drucken lassen.

Das erste interaktive Album

Gleichzeitig veröffentlichten die Beatles mit «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» genau das, was Brian Wilson vorschwebte: das erste Konzeptalbum, das mit cleverem Einsatz der Studiotechnik die Grenzen der Rockmusik sprengte. Brian Wilson hatte das kreative Wettrennen mit den britischen Rivalen verloren.

Nach dem «Smile»-Debakel verfiel Brian Wilson in eine schwere Depression, von der er bis heute nur teilweise geheilt ist. «Smile» wurde derweil zum Objekt kultischer Verehrung. Aus regulär veröffentlichten Songs und Raubkopien bastelten Fans ihr eigenes, möglichst vollständiges «Smile»-Album. So hat es, auch wenn es nicht zum ersten Konzeptalbum geworden ist, doch den Titel «erstes interaktives Rockalbum» verdient, wie ein amerikanischer Musikjournalist ironisch bemerkt.

Lange Zeit schien unwahrscheinlich, dass «Smile» jemals vollendet werden würde – nicht zuletzt, weil Brian Wilson keine Lust dazu hatte. Was ihn schliesslich dazu bewog, seine Meinung zu ändern, ist unklar. «Früher dachte ich, die Musik sei zu seltsam», sagte der inzwischen 62-Jährige der «New York Times». «Ich glaube, jetzt sind die Leute bereit dafür.» Da ist etwas dran: Gerade weil die Musik derart vom damals Gängigen abwich, klingt sie auch heute noch frisch.

Dreiteilige Suite

Aus den 23 bekannten «Smile»-Stücken wählte Brian Wilson 17 aus und montierte sie zu einer dreiteiligen Suite. Auch die einzelnen Songs sind modular aufgebaut: Am Schluss des Aufnahmeprozesses baute Wilson aus einzelnen, separat aufgenommenen Motiven die fertigen Stücke. Dank des Musik-Editier-Programms Pro-Tools gestaltet sich das Zusammenfügen solcher Puzzles heute wesentlich einfacher. Einige kurze Passagen haben Wilson und Parks neu komponiert - nicht alle davon sind gleich gut gelungen.

Thema des ersten Teils ist die Besiedlung Nordamerikas durch die EuropäerInnen. In «Heroes and Villains» tanzt eine gewisse Margarita «from the Spanish and Indian home» (mit anderen Worten: eine Mexikanerin) im wildwestlichen Kugelregen «ohne Angst davor, was ein Typ in einer Stadt voller Helden und Schurken anrichten kann». Dann bauen chinesische Arbeiter (auch Coolies genannt) die erste transkontinentale Eisenbahnlinie: «Have you seen the grand coolie workin’ on the railroad?», heisst es im Song «Cabin Essence», der die Zeile mit der Krähe und dem Kornfeld enthält, die Mike Love so in Rage brachte.

Höhepunkt des zweiten Teils ist das elegische «Surf’s Up». Brian Wilson nahm sich 1966 die Mühe, dem Publikum zu erklären, was der Text bedeutet. «A blind class aristocracy / Back through the opera glass you see / The pit and the pendulum drawn»: Ein Mann sitzt im Konzertsaal, mitten im elegant gekleideten Publikum. «Columnated ruins domino»: Imperien und Institutionen stürzen zusammen wie Dominosteine. «The music hall a costly bow / The music all is lost for now / To a muted trumpeter’s swan»: Dann verstummt auch die Musik (aus «hall a costly» kann man auch «Holocaust» heraus hören - Bob Dylan ging in seinen wildesten Träumen nicht so weit). Doch das Stück endet mit einer optimistischen Note: Parks und Wilson erinnern sich an unbeschwerte Tage am Strand – eine trotzige Geste der Vorwärtsverteidigung: Ihr glaubt, wir seien harmlose Strandjungen? Genau das sind wir!

Im Zentrum des dritten Teils stehen vier Stücke, die die Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser aufgreifen. «Vega-Tables» ist ein Lobgesang auf gesunde Ernährung mit viel Gemüse (in der Originalversion war Paul McCartney zu hören, wie er im Takt in ein Rüebli biss). Auf das traumhaft schöne «Wind Chimes» folgt das düstere, karg instrumentierte Feuerstück «Mrs. O’Leary’s Cow». Um die Studiomusiker in die richtige Stimmung zu bringen, liess Wilson sie während der Aufnahme von 1966 Feuerwehrhelme tragen. Als in der Nähe des Studios ein Brand ausbrach, war Wilson überzeugt, seine Musik habe auf magische Weise das Unglück verursacht. Er beschloss, das Stück sei «zu gefährlich» und sperrte die Bänder in einen Schrank. Inzwischen ist er von dieser Idee abgerückt, doch der Neuaufnahme fehlt die verstörend-bedrohliche Stimmung der Originalversion.

Bootlegs haben nicht ausgedient

Nun ist «Smile» also komplett im Kasten, Brian Wilson rehabilitiert und Mike Love sieht alt aus. Dennoch stellt sich die Frage: Was bringt die Übung? Was haben wir davon, wenn eine gut eingespielte Band im Jahr 2004 die Aufnahmen von 1966/67 mit beinahe irritierender Akribie rekonstruiert, so dass sich die beiden Versionen (abgesehen von wenigen neu hinzugefügten Teilen) so wenig unterscheiden wie Coke und Pepsi? Nur Brian Wilsons brüchig gewordene Stimme erinnert daran, dass zwischen Komposition und Fertigstellung der Aufnahmen 38 Jahre vergangen sind.

Die Rekonstruktion von «Smile» mutet an wie der gegenwärtige Plan, das Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen. Die Idee ist bestechend, läuft aber auf den Versuch heraus, die Geschichte auszublenden. Und das ist ärgerlich. Deshalb haben die Bootlegs und die selbst gebastelten «Smile»-CDs nicht ausgedient, solange nicht die kompletten Originalbänder veröffentlicht werden. Falls es jemals dazu kommt, dann sollte jener «Cabin Essence»-Take nicht fehlen, auf dem Mike Love flucht: «What the hell does this mean?»

Brian Wilson: Smile. Nonesuch/Warner Music