Solange die Lüge kommandiert

Noch zwei Monate, sagt Nato-Generalsekretär Javier Solana, dann wird eine politische Lösung des Kosovo-Konflikts greifbar sein. Und US-Generalleutnant Michael Short, oberster Kommandeur des Luftkriegs, erwartet «ein baldiges Ende» der Militäraktion gegen Jugoslawien. Er sei davon überzeugt, dass die Ausweitung der Luftangriffe mit Hilfe zusätzlicher Flugzeuge binnen zweier Monate zum Erfolg führen werde, sagte er der «Washington Post». In der Privatwirtschaft würde ein einigermassen seriöser Arbeitgeber die Herren Short und Solana auf der Stelle entlassen. Was anderes als Inkompetenz kann es sein, wenn sie volle vier Monate für die Verrichtung einer Arbeit brauchen, die sie selbst einmal als relativ leicht zu erledigen beschrieben haben.
Wofür kämpft die Nato zurzeit? Die lakonische Antwort heisst immer: für eine schnelle Rückkehr der Flüchtlinge. Der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic soll gezwungen werden, seine Truppen aus dem Kosovo zurückzuziehen und eine politische Regelung zu akzeptieren, wonach der Kosovo formell jugoslawisch bleibt, de facto aber ein eigener Staat wird. So heisst es.
Das Bündnis hat nach eigenem Verständnis also klare Ziele. Und, sollte man meinen, wer klare Ziele hat, arbeitet auch an ihrer schnellen Verwirklichung. Das ist aber bei der Nato nicht der Fall. Ihre Generäle selbst erklären mittlerweile, dass es vielleicht noch zwei Jahre dauern wird, bis die kosovo-albanischen Flüchtlinge in ihre Häuser zurückkehren können.
In welche Häuser? Die Dörfer sind niedergebrannt, die Böden verseucht, die Luft ist vergiftet, das Wasser verdreckt. Der Kosovo, das wissen die Krieger, wird nur noch für diejenigen bewohnbar sein, die absolut keine andere Wahl haben. Mit anderen Worten: Die Flüchtlinge spielen im Nato-Kalkül schon längst keine Rolle mehr, sie wurden an die humanitären Organisationen abgeschoben. Was ist also mit den so lakonisch wiederholten Kriegszielen?
«Ihr Ziel war nicht Eroberung, sondern die Ausübung von Druck. Gewalt sollte nach einem rationalen Kalkül eingesetzt werden, um die Absichten und Fähigkeiten des Feindes zu beeinflussen und ihn zu dem Punkt zu bringen, an dem die Vorteile einer Beendigung des Konflikts grösser sind als die Vorteile seiner Fortsetzung.» Dies schrieb die US-Historikerin Barbara Tuchman in ihrem Buch «Die Torheit der Regierenden» über die USA und den Vietnam-Krieg. Heute wie damals ist der Westen versucht, den Krieg zu einer Sache des «rationalen Managements» zu deklarieren. Heute wie damals verdrängt vor allem Washington die Frage, was kommt, wenn die andere Seite nicht erwartungsgemäss rational reagiert. Wie kann überhaupt ein Krieg beendet werden, in dem nur noch um die eigene Glaubwürdigkeit gekämpft wird?
Auch Belgrad «spielt» nur noch um die eigene Glaubwürdigkeit. Nur ist dort der Einsatz noch grösser als in Brüssel. Denn dort geht es ums Überleben der herrschenden Klasse. Das Land existiert zwar immer noch auf der Karte, kann aber seinen BewohnerInnen weder eine sichere Gegenwart noch eine verlässliche Zukunft anbieten. «Die Vergangenheit war schlimm, die Gegenwart ist schrecklich, Gott sei Dank haben wir keine Zukunft», schrieben Gymnasiasten in Belgrad an ihre Schulwand.
Auf beiden Seiten spielt man mit Lügen und mit Illusionen. Die westliche Illusion ist, dass man immer noch eine demokratische Legitimation für diesen Krieg hat. Parlamente und Regierungen haben sich allerdings lediglich über eine Militärintervention verständigt, nicht aber darüber, ein Land in Schutt und Asche zu legen und seine Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Denn man kann es nur Terror nennen, wenn einer Zwei-Millionen-Stadt wie Belgrad tagelang Wasser und Strom abgestellt wird. Die Ziele der Angriffe müssen überprüft werden, sagte der deutsche Aussenminister Joschka Fischer – nachdem eine Cocktailrunde in der Schweizer Botschaft in Belgrad von Nato-Projektilen gestört wurde.
Die Illusion der serbischen Regierenden ist die Annahme, im Krieg stehe das ganze Land hinter ihnen. Dabei hat man nur Angst – vor den Bomben, vor der Zukunft, vor Verfolgungen, vor der Armut, die kommen wird, vor einer offenen Diktatur. Milosevic und seine Gefolgschaft wollen das Gesicht nicht verlieren –, Menschenleben und jede Lebensgrundlage der späteren Generationen in Serbien spielen dabei keine Rolle.
Es wird keine Friedenslösung geben, solange beide Seiten falsch spielen. Ehrlich zu spielen, würde verlangen, ein politisches Ziel festzusetzen, das dauerhafte Stabilität auf dem Balkan ermöglicht. Dies ist allerdings nicht mit dem «Stabilitätspakt», den sich Fischer ausgedacht hat, zu erreichen. Seine fast zynische Idee ist es, einen Plan zu verabschieden, der dem Balkan Stabilität bringen soll, ohne Jugoslawien, geschweige denn die serbische Opposition auch nur anzuhören.
Ehrlicher und in jeder Hinsicht billiger wäre es, das 1991 eingeführte völkische Prinzip der nationalen Selbstbestimmung bis zur Eigenstaatlichkeit jetzt auch konsequent anzuwenden. Den Kosovo-AlbanerInnen sollte also nicht aus dogmatischen Gründen vorenthalten werden, was SlowenInnen, KroatInnen oder BosniakInnen so gedankenlos zugesprochen wurde.
Ein Protektorat von dem man jetzt spricht, kann daher nur einen Sinn haben, wenn gleichzeitig über die neuen Grenzen nach 1991 und 1995 verhandelt wird. Eine solche Konferenz kann Jahre dauern, aber wer sich für das Risiko eines Krieges entschieden hat, sollte auch den Mut aufbringen, das Risiko einer radikalen politischen Lösung einzugehen.