«Nai» gegen «Ochi»

Freitag, 3. Juli: Die beiden politischen Blöcke versammeln sich zu ihren grossen Abschlusskundgebungen – Erasmus-Party hier, Volksfest dort.

Gegen Erpressung, für Demokratie: Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras spricht am Freitag vor Zehntausenden von AnhängerInnen. Foto: Kusha Bahrami.

Nicht nur Demokratie, die Teilhabe des Volkes an der Machtausübung, ist ein griechisches Wort, sondern auch Dramaturgie, die Lehre von der Gesetzmässigkeit des Dramas. Dieser Freitagabend in Athen verläuft nach einer perfekten Dramaturgie: Wenige hundert Meter voneinander entfernt versammeln sich die Befürworter des Referendums vor dem Olympiastadion und die Gegner vor dem Parlamentsgebäude. Getrennt sind sie nur vom Nationalgarten und von sehr vielen PolizistInnen. Die beiden Kundgebungen beginnen zeitgleich.

Bei den JasagerInnen

«Nai» – Ja: Vor dem Olympiastadion haben sich die meisten DemonstrantInnen die Parole mit einem kreisrunden Sticker an die Brust geheftet. Wer sind die JasagerInnen und was sind ihre Beweggründe? Da ist zum Beispiel Jurastudentin Dimitra Vytogianni: «Griechenland muss ein Teil von Europa bleiben», sagt sie – und möchte selbst dazugehören. Eben hat sie ihren Bachelor gemacht, nun will sie an die London School of Economics studieren und reisen gehen. Die junge Frau, die für die rechtskonservative Neo Demokratia stimmt, betont ihren Realitätssinn: «Tsipras und Varoufakis sind Lügner, die einer Utopie nachleben, statt die Realität zur Kenntnis zu nehmen».

Auch Dimitris Andrio ist gekommen, nach einem Mathematikstudium in Chicago arbeitet er als Börsenhändler in New York. Er habe das Land verlassen, weil es nicht funktioniere. Und er werde zurückkehren, sobald es wieder funktioniere. Auch Andrio will, dass Griechenland Teil von Europa bleibt, weil er ein Zusammenspannen der extremistischen Kräfte fürchte. Syriza habe schliesslich bereits mit der rechtspopulistischen Anel paktiert. Auch Andrio betont seine Weitsicht: «Wer Ja sagt, hat die nächsten vierzig Jahre im Blick. Wer Nein sagt, bloss die nächsten fünf Tage. Wir müssen Verantwortung für die Kinder und Enkel übernehmen.»

Studieren, Reisen und Sicherheit für die Familie, Realitätssinn und Weitsicht: Das wünschen sich nicht nur die Jüngeren auf dem Platz, sondern auch die Älteren. In den Gesprächen wird mal vor Lügner Tsipras, mal vor dem Einbrechen des Tourismus, mal vor der Unsicherheit generell gewarnt. Es ist ein gut gebildetes, polyglottes Publikum, das sich hier versammelt hat. An blau-gelben Ballons befestigt steigt eine Europaflagge in die Luft, aus den Boxen dröhnt zwischendurch auch mal Manu Chao. Der Groove erinnert an eine Party von Erasmus-StudentInnen.

Bei den NeinsagerInnen

«Ochi, Ochi, Ochi!». Auf dem Weg durch den Nationalgarten erschallen die Rufe der GegnerInnen für ein Nein zum Referendum. Bereits um 20 Uhr ist vor dem Parlamentsgebäude kein Durchkommen mehr. Von der Bühne ertönen zuerst überraschenderweise deutsche Worte: Gregor Gysi, der Spitzenpolitiker von der Partei Die Linke, ist aus Berlin angereist: «Eure Regierung kämpft wie David gegen Goliath», ermuntert er das Publikum. Sie müsse endlich gestärkt werden: Statt Sparpolitik brauche es soziale Wohlfahrt. «Wir wollen ein in jeder Hinsicht anständiges Europa.» Gysis einsamer Auftritt macht deutlich, dass die Regierung von Syriza von den Linken in Europa in ihrer Bedeutung zu wenig wahrgenommen oder – wie von den SozialdemokratInnen unter Sigmar Gabriel in Deutschland – sogar bekämpft wird.

Dabei gäbe es von dieser Bewegungspartei viel zu lernen, auch was die Politkultur betrifft: Nacheinander treten griechische Musikstars auf, sie spielen keine simplen Einpeitschsongs, sondern von stillen Klavierballaden von Rita Antonopoulou bis zu klassischen Rockhymnen von Alkinoos Ioannidis ein gewagteres Programm. Fast alle MusikerInnen verlassen die Bühne mit einem kurzen «Ochi!» – es schallt aus der Menge tausendfach zurück. Was in den Sprechchören auch immer wieder zu hören ist: Ein verbreitetes Misstrauen gegen die Massenmedien, namentlich gegen die privaten Fernsehstationen, die gegen Syriza Stimmung machen. Das Referendum ist auch ein Kulturkampf.

Dann betritt Ministerpräsident Alexis Tsipras die Bühne: «Heute feiern wir die Demokratie!» ruft er. Niemand könne Griechenland aus der EU werfen. «Von Athen ist die Demokratie ausgegangen, und von hier aus kehrt sie zurück.» Die Bevölkerung lasse sich die Erpressung, ja die Terrorisierung nicht länger bieten, sondern wolle die Angst überwinden. «Ganz Europa blickt nach Griechenland: Es geht um Hoffnung und Zuversicht.» Vom Publikum – darunter auffallend viele um die Dreissig – wird Tsipras frenetisch gefeiert.

Auf den kurzen Auftritt folgt der bekannteste griechische Rocksänger, Vasilis Papakonstadinou. Die Menschen vor dem Parlamentsgebäude und auf dem Syntagma-Platz, wo der Anlass auf Grossleinwänden übertragen wird, singen seine Lieder mit. Von den kleinen Grillständen mit Souvflaki und Maiskolben wehen Rauchwolken. Volksfeststimmung liegt in der Luft, die grossen Wörter von Freiheit und Hoffnung wirken plötzlich brauchbar. Doch Ausgelassenheit kommt keine auf, die Ernsthaftigkeit bleibt. Der Ausgang des Referendums am Sonntag bleibt ungewiss. Gemäss einer Umfrage des privaten Fernsehsenders Mega liegen die beiden Lager fast gleichauf, mit leichtem Vorteil für die Befürworter: 44,1 Prozent wollen Ja stimmen, 43,7 Prozent Nein.

Alle bereits erschienenen Blogbeiträge finden Sie im Blog «Heisse Tage in Athen»