Durch den Monat mit Güzin Kar (Teil 2): Die Wimper-Übung

Wenn Sie so ein Massaker wie das in der Schule von Beslan mitbekommen, bei dem islamische Fundamentalisten negativ in die Schlagzeilen geraten, betrifft Sie das besonders, weil Ihre Familie muslimische Wurzeln hat?
Nein, im Moment noch nicht. Ich bringe mich in keiner Weise mit den Tätern in Verbindung. Das geht auch meinen Freundinnen so, die in der Türkei aufgewachsen sind und vom Islam viel stärker geprägt sind als ich. Ich weiss allerdings nicht, in welche Richtung die Medienberichterstattung gehen wird und welche Aspekte noch herausgegriffen werden. Je nachdem betrifft es mich dann doch anders als jemand ohne familiären Bezug zum Islam.

Was würde Sie denn betreffen?
Wenn die Muslime pauschal negativ dargestellt würden. So finde ich die Inserate «Muslime bald in der Mehrheit?», die letztes Wochenende im Abstimmungskampf gegen die beiden Einbürgerungsvorlagen vom 26. September aufgetaucht sind, ärgerlich. Ich frage mich, wie viel Dummheit in die Köpfe dieser Leute passt. Als ob es weniger Muslime gäbe, wenn sie nicht eingebürgert würden.

Wie halten Sie es selber mit der 
Religion?
Oh, gar nicht, ich bin kein religiöser Mensch. Meine Eltern sind keine praktizierenden Muslime, und es gab zu meiner Schulzeit noch keinen muslimischen Religionsunterricht. Meine Mutter legte sich den Islam immer so zurecht, wie sie ihn für unsere Erziehung brauchte. Wenn ich zum Beispiel den Reis nicht aufessen wollte, drohte sie mir damit, dass ich in die Hölle käme und dort jedes einzelne nicht gegessene Reiskorn mit der Wimper auflesen müsse. Ich weiss auch nicht, woher sie das hatte. Furchtbar. Ich übte oft stundenlang in der Küche Reiskörner mit der Wimper auflesen, damit es in der Hölle schneller ginge ...

Wünschen Sie sich, Sie hätten mehr von der islamischen Kultur mitbekommen?
Ich wüsste gerne mehr darüber, ja. Wenn man in der Schweiz aufwächst, kriegt man das Christentum automatisch mit. Man geht zu Beerdigungen und Hochzeiten in die Kirche, feiert Weihnachten, lernt in der Schule vieles über die Religionsgeschichte.

Sie sagten letzte Woche, Sie seien in Ihrer Familie die erste Frau, die lesen und schreiben gelernt hat. Zudem hat vor Ihnen noch nie jemand aus der Familie eine Mittelschule und dann die Uni besucht ...
... und ich bin auch die Erste, die die Uni wieder abgebrochen hat. Das war wohl die schwierigste Entscheidung, die ich bisher in meinem Leben treffen musste. Ich habe drei Jahre lang mit mir gerungen und fühlte mich in dieser Zeit richtig krank.

Weshalb?
Ich war der Stolz der ganzen Sippe: Endlich hatte es jemand geschafft, endlich sind wir jemand! Das war nicht nur bei meiner Familie in der Schweiz so, auch die Verwandten in der Türkei hatten diesen Stolz. Und dann habe ich gemerkt, dass das theoretische Literatur- und Filmwissenschaftsstudium eigentlich nicht das ist, was ich möchte. Ich habe es kaum über die Lippen gebracht.

Und als Sie es dann über die Lippen brachten?
Das Schlimme war nicht die Reaktion meiner Eltern, sondern meine eigene Angst: Ich wusste ja schon, dass ich an die Filmschule gehe, aber das bedeutet noch lange nicht, dass man später auf dem Beruf arbeiten kann. Die wenigsten schaffen es. Auch meine Eltern hatten furchtbare Angst, dass ich am Ende mit nichts dastehe. Für meine Mutter ist eine Frau ohne Ausbildung das Schlimmste, was es geben kann ...

Ist Ihre Mutter eine Feministin?
Nein, überhaupt nicht. Aber sie stammt aus einfachen Verhältnissen, und für sie ist es normal, dass die Frau arbeitet. Mir wurde seit meiner Kindheit eingetrichtert, dass ich einen Beruf lernen muss. Deswegen kam es mir immer lachhaft vor, dass die Gesellschaft das in den siebziger und achtziger Jahren noch als grosse Theorie entdecken musste. Die Frauen aus der Unterschicht wissen schon lange um den Vorteil einer Ausbildung, dort sind Frauen in der Lohnarbeit eine Selbstverständlichkeit.

Film war Ihren Eltern suspekt, Sie haben die Ausbildung trotzdem gemacht.
Ich musste es gegen alle Widerstände tun, da ich wusste, dass ich sonst nicht glücklich werden würde. Bei meinen 
Eltern dauerte der Schock ein paar 
Wochen. Heute sammelt die Mutter 
jeden Schnipsel, der von mir irgendwo 
erscheint, was mir schrecklich peinlich ist.

Sie mussten in Ihrer Familie also nie für Ihre Ausbildung kämpfen?
Nein. Ich musste nie beweisen, dass 
ich etwas kann, dass ich stark bin. Das Gegenteil war der Fall: Ich musste 
lernen, schwach zu sein und meine Schwächen zu zeigen.

GÜZIN KAR, Alter geheim («irgendwo in 
den Dreissigern»), ist Drehbuchautorin und Regisseurin.