Durch den Monat mit Therese Frösch (Teil 2): Bern ist erstaunlich urban

WOZ: Letzte Woche haben Sie mitgeholfen, hier in Bern ein «Sozialpolitisches Manifest aus grüner und urbaner Sicht» vorzustellen. Was steckt dahinter?
Es war so: Die Doyenne der grünen Sozialdirektoren, Monika Stocker, hatte die Idee, dass sich die Amtskollegen ihrer Partei, Ruedi Meier aus Luzern, Thomas Feurer aus Schaffhausen und ich, alle drei Monate zum Essen und zum Meinungsaustausch treffen sollten. An einem dieser Treffen haben wir beschlossen, der Öffentlichkeit mit einem Manifest zu zeigen, worum es heute in den Städten sozialpolitisch geht.

Zu Beginn der Pressekonferenz sprachen Sie von einem «Appell», einem «Aufruf», gar einem «Aufschrei».
Das Manifest ist kein sozialpolitisches Parteiprogramm. Es ging uns Exekutivlern und Exekutivlerinnen darum, zu zeigen, wo es heute brennt.

Und wo brennt es?
In den Städten haben wir heute eine komplexe urbane Situation. In Bern zum Beispiel leben unterdessen mehr als fünfzig Prozent der Leute in Einpersonenhaushalten. Hier braucht es soziale Netze, die die weggefallene Sicherheit der Familienzugehörigkeit ersetzen. Zudem sind die Städte zu Schmelztiegeln für Menschen geworden, die Probleme haben, in der Ausbildungs- und Arbeitswelt Fuss zu fassen. Nach jeder wirtschaftlichen Krise bleibt hier mehr Arbeitslosigkeit zurück – vor allem bei Jugendlichen und bei den über Fünfzigjährigen. Wir werden mit zunehmender Ausgrenzung und Vereinsamung und steigenden psychischen Problemen konfrontiert. Das Berner Sozialamt hat im letzten Jahr so viele neue Sozialfälle wie nie registriert.

Diese Situation trifft zusammen mit dem wachsenden Spardruck.
Richtig. Der Kanton Bern weigert sich zurzeit, nötige neue Projekte – zum Beispiel im Bereich der familienexternen Betreuung – zu unterstützen. Er kritisiert uns, die Stadt Bern habe schon genug Tagesschulen und Krippen. Die Einführung einer «Kulturlegi» für einkommensschwache Personen ist blockiert; ebenso Pinto, eine gassennahe Interventionstruppe mit Sozialarbeitscharakter und gewissen repressiven Kompetenzen. Von Samuel Bhend, dem sozialdemokratischen Sozialdirektor des Kantons, höre ich immer das Gleiche: Bis zur Abstimmung über die bürgerliche Steuersenkungsinitiative im Februar 2005 gehe gar nichts mehr.

Sie haben die Direktion für Soziale Sicherheit der Stadt Bern erst vor anderthalb Jahren übernommen, als für die Beilegung des Wasserfallen-Skandals eine Departementsrochade nötig wurde. Wenig Zeit, um etwas zu bewegen.
Der Direktionswechsel ist inhaltlich zum Aufsteller geworden. Im Mai letzten Jahres haben wir die Projekte festgelegt, die abgeschlossen sein sollten, bevor ich zurücktrete. Wir haben unsere Ziele erreicht.

Welche Projekte sind das?
Erstens haben wir eine Sozialbehörde nach dem Sozialhilfegesetz eingerichtet, die die Umsetzung der Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe kritisch im Auge behält. Das hat es in Bern bisher nicht gegeben. Dann haben wir eine Einreihungsüberprüfung für Kleinkindererzieherinnen, Tagesschulleiterinnen und für die Sozialarbeit durchgeführt. Die Überprüfung hat in den typischen Frauenberufen zu Lohnverbesserungen geführt. Und weil die Stadt Bern nun seit vier Jahren schwarze Zahlen schreibt, habe ich 250 000 Franken ins nächste Budget gesetzt, damit allfällig nötige Korrekturen sofort vollzogen werden können. Drittens haben wir überall dort Gesamtarbeitsverträge aufgegleist, wo die Sozialdirektion Aufgaben an Dritte vergibt. Und schliesslich haben wir unter dem Titel «1. Berner Sozialplattform» eine Fachtagung zur Zukunft der Stadtberner Sozialpolitik durchgeführt.

Das tönt nach realpolitischer Knochenarbeit in der Provinz. Ist Bern eigentlich heute in irgendeinem Aspekt von überregionaler Bedeutung?
Klar, Bern ist die Hauptstadt und gehört zum Unesco-Weltkulturerbe (lacht). Abgesehen davon: Alle, die genauer hinschauen, wissen, dass in Bern seit Jahren bei den kantonalen und nationalen Abstimmungen die fortschrittliche Seite gewinnt. Dass in einem konservativen Agrarkanton so viel Rot-Grün-Mitte und so viel Urbanität möglich ist, ist tatsächlich erstaunlich. Ohne Bern stünde Basel in der Deutschschweiz mit den Abstimmungsresultaten häufig sehr allein da.

Therese Frösch, 53, ist noch bis Ende 2004 Sozialdirektorin der Stadt Bern. 
Seit diesem Jahr ist sie auch Nationalrätin für die Grüne Partei*. Das «Sozialpolitische Manifest» findet sich unter: www.gruene.ch.

*Nachtrag: Therese Frösch war Nationalrätin vom 1. Dezenber 2003 bis 4. Dezember 2011