Kanzlerwahl: Historischer Fehlstart
Noch ehe er im Amt war, hat der neue deutsche Kanzler Friedrich Merz Geschichte geschrieben. Völlig überraschend verfehlte der CDU-Politiker im ersten Wahlgang die sogenannte Kanzlermehrheit – ein in der Bundesrepublik historisch bislang einmaliger Fall: Noch nie hatte sich ein designierter Regierungschef im ersten Durchgang nicht den nötigen Zuspruch aus den eigenen Reihen sichern können. Auf dem Papier hatten CDU, CSU und SPD, die sich in den vergangenen Wochen auf eine Koalition geeinigt hatten, eine Mehrheit von zwölf Stimmen. Am Ende fehlten Merz sechs. Aus welcher Partei genau die Abweichler:innen kamen, weiss man nicht, die Wahl war anonym.
Über Stunden herrschte in Berlin Unklarheit, wie es nun weitergehen würde. Dann votierte der Bundestag mit den Stimmen der Grünen und der Linken für eine Änderung der Geschäftsordnung, die einen zweiten Wahlgang noch am Nachmittag ermöglichte (nebenbei ein kleiner Achtungserfolg für die von Jan van Aken und Ines Schwerdtner geführte Partei, da in der CDU/CSU eigentlich der Beschluss gilt, nicht mit der Linken zusammenzuarbeiten). So wurde Merz schliesslich doch noch ins Amt gewählt, wobei ihm auch im zweiten Durchgang mindestens drei Abgeordnete aus den Reihen der Regierungskoalition erneut die Gefolgschaft verweigerten.
Das merzsche Scheitern im ersten Wahlgang war ein Paukenschlag, der auch international widerhallte: Angesichts der Turbulenzen der Gegenwart mit einem irrlichternden US-Präsidenten und einem russischen Staatschef, der unbeirrt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine fortführt, gilt es in den westlichen Hauptstädten als unabdingbar, dass in Deutschland stabile Verhältnisse herrschen. Bislang amtierte noch Olaf Scholz von der SPD als geschäftsführender Regierungschef. Dieser war allerdings im Februar mit einem für seine Partei desaströsen Ergebnis abgewählt worden.
Was der turbulente Start der Regierung Merz nun für die weitere politische Entwicklung in Deutschland bedeutet, ist schwer einzuschätzen. «Wenn er nicht mal seine eigenen Leute hinter sich vereinen kann – nicht mal die Berliner Blase –, wie soll er dann das Land vereinen?», fragte van Aken nach dem ersten Wahlgang rhetorisch. Linken-Parlamentsgeschäftsführer Christian Görke bezeichnete das Resultat als Quittung «für einen wirklich schlechten Koalitionsvertrag, der die grossen Probleme dieses Landes nicht angeht». Dass Oppositionspolitiker eher scharfe Worte wählen, ist wenig überraschend, doch der Tenor von anderer Seite lautete auch nicht viel anders. Von einer «einzigen Blamage» sprach «Zeit Online», der britische «Guardian» wiederum nannte das Scheitern des CDU-Chefs einen «demütigenden und peinlichen Rückschlag».
Dass ein Kanzler mit ausgeprägt rechtem Profil derart angeschlagen ins Amt geht, kann man aus linker Perspektive begrüssen: Womöglich veranlasst das Merz, zumindest bis auf Weiteres einen eher defensiven Kurs zu fahren. Zugleich schwebt über dem Berliner Betrieb aber das Schreckgespenst der AfD, die in manchen Umfragen bereits den grössten Wähler:innenzuspruch erreicht. Eine einigermassen stabile Regierung, gebildet aus denjenigen Parteien, die vor noch nicht allzu langer Zeit eine «Grosse Koalition» bildeten, scheint da doch das kleinere Übel.