Freisinn im Fall: Mensch, FDP!
In Zürich, Solothurn oder Schaffhausen: Vor den entscheidenden Ständeratswahlen degradiert sich die FDP selbst.
Gross waren die Worte am «Tag der FDP» vor fast einem Jahr: «Das liberale Feuer brennt lichterloh!», rief Präsident Thierry Burkart den 900 Delegierten in Burgdorf zu. Der neue Präsident strotzte vor Selbstbewusstsein: Der Freisinn sei die Kraft, «die dieses Land mit Abstand am meisten geprägt und gestaltet hat und es auch in Zukunft tun wird». Ganz im Gegenteil zu den Links-Grünen – die wollten aus der Schweiz ein «staatliches Erziehungs- und Umverteilungsbiotop» machen. Das grosse Wahlziel, das Burkart proklamierte: die SP als zweitstärkste Kraft überholen. «Wir werden kämpfen! Seite an Seite, Schulter an Schulter! Und wir werden siegen!» Die FDP-Delegierten setzten sich blaue Käppis auf, und die Parteispitze drückte Schulter an Schulter auf einen roten Knopf: Ein Feuerwerk flammte auf, aus den Boxen schallte «The Final Countdown».
Doch statt durchzustarten, ist die FDP bei den Wahlen am 22. Oktober abgestürzt. Sie ist nicht zweit-, sondern viertstärkste Partei geworden: Die Mitte-Partei hat die bürgerliche Rivalin überholt – wenn auch nicht beim Wähler:innenanteil, so doch bei den massgeblichen Mandatszahlen in der Bundesversammlung. Das hat auch damit zu tun, dass der für die FDP prognostizierte Siegeszug im Ständerat ausblieb. Und dass sie darauf den Mut verlor. Gleich in drei Deutschschweizer Kantonen nahm sie ihre eigenen Kandidat:innen für einen zweiten Wahlgang aus dem Rennen. Dreimal zugunsten von Rechtsaussenhardlinern: für den Parteilosen Thomas Minder in Schaffhausen, für Christian Imark in Solothurn und für Gregor Rutz in Zürich (beide SVP). Zürich, Solothurn, Schaffhausen: Die Ständeratswahlen in diesen Kantonen erzählen viel über den Freisinn im freien Fall.
Chaos total
In Schaffhausen ist die FDP schon fast am Boden angekommen. Rund zwölf Prozent holte der Freisinn dieses Jahr hier noch bei den nationalen Wahlen – 1999 waren es vierzig Prozent gewesen. Und der Trend zeigt nach dem ersten Wahlgang für den Ständerat weiter steil nach unten. Die eigene Kandidatin, Nina Schärrer, wollte es nochmals versuchen, doch der Parteivorstand stellte sich nach einem Hinterzimmerdeal mit der SVP hinter Thomas Minder. Dafür will die SVP angeblich die FDP in vier Jahren unterstützen, falls Minder in Rente geht.
Seither brennt es tatsächlich lichterloh bei den Freisinnigen im Kanton. In einem Leserbrief übte die Neuhauser Sektion scharfe Kritik am Vorstand. Prominente Parteimitglieder haben sich einem Komitee für den chancenreichen SP-Kandidaten Simon Stocker angeschlossen. Der kantonale Parteipräsident setzte sich derweil in die Ferien ab. Nina Schärrer selber will sich derzeit nicht mehr in den Medien äussern. Auf Facebook schrieb sie allerdings nach ihrem forcierten Rücktritt, man könne ihr weiterhin die Stimme geben. Auch auf Instagram meldete sie sich: Thomas Minder hatte ohne Einwilligung Schärrers deren Plakate aus Ständern der FDP Neuhausen entfernen und seine eigenen aufhängen lassen. Chaos total am Rheinfall.
Keine Flügel mehr
Schärrer sollte der FDP ein offeneres, städtischeres Gesicht geben. Eine junge Mutter, wirtschaftsliberal, aber mit familienfreundlichen Positionen und ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe tätig: Kaum als Kandidatin aufgebaut, hat die FDP Schaffhausen sie für den rechten Wutbürger Minder geopfert. «Eine Riesendummheit», klagt Arnold Marti, «der nächste Sargnagel für unsere Partei!» Marti ist das sozialliberale Gewissen der kantonalen FDP, er hat über Jahrzehnte viele Ämter ausgefüllt, war lange Zeit Richter am Schaffhauser Obergericht.
Geht es um den Niedergang seiner Partei, kommt er ins Erzählen. Die erste Phase: in den 1980er Jahren, als die Schaffhauser FDP nach der Gründung der Autopartei selber den ökologischen Flügel hinausdrängte. Die zweite Phase: als sie mit einem staatsfeindlichen Kurs in den Neunzigern die Beamt:innen vergraulte. Und danach die sukzessive Unterordnung unter die erstarkende SVP. Wie kann sich die FDP wieder aufrappeln? «Nur mit ganz neuen Leuten, aber ich bin da nicht sehr zuversichtlich.»
Im Kanton Solothurn hat der Freisinn noch keine Bruchlandung erlitten, aber auch hier befindet er sich im konstanten Sinkflug: von der absoluten Mehrheit auf noch siebzehn Prozent bei den Wahlen vor einer Woche. FDP-Regierungsrat Remo Ankli nahm sich selber für die Ständeratswahl aus dem Rennen, nachdem er im ersten Wahlgang abgeschlagen auf Rang vier gelegen hatte. Dabei war man siegessicher: Schon aufgehängte Plakate, die für Anklis zweiten Anlauf warben, mussten eilig abgehängt werden.
Stattdessen stellt sich die FDP hinter den SVP-Bewerber Christian Imark, einen «Demagogen, der fast nur Schwarz-Weiss kennt». Das sagt Kurt Fluri, abtretender FDP-Nationalrat in Solothurn. Er glaubt: Das Anschmiegen an die SVP schadet der Partei erheblich. «Bürgerlich ist bei der SVP nur das Etikett, das zeigt sich am Abstimmungsverhalten», sagt Fluri. Doch ob er noch Gehör findet? Der einflussreiche Oltener FDP-Mann Nico Zilla gab durch, seine Partei müsse sich nun hinter Imark scharen, man könne sich keine verschiedenen Flügel mehr leisten.
«Was für eine Aussage!», wundert sich Franziska Roth von der SP, Imarks Konkurrentin im zweiten Wahlgang. Sie hat wie Stocker in Schaffhausen gute Chancen, in den Ständerat einzuziehen. Roth sagt: «Ich erhalte viel Zuspruch von enttäuschten FDP-Politiker:innen.» Noch vor dem ersten Wahlgang lehnte die FDP eine Verbindung mit der SVP ab, auch weil diese mit den Coronaleugner:innen von Mass-Voll zusammenging. Nun zählt das alles nichts mehr. Alte Gewissheiten lösen sich rasend schnell auf. «Den einst stolzen sozialliberalen Solothurner Freisinn gibt es offenbar nicht mehr», sagt Roth.
Wirtschaft diktiert
Stolz: Mit diesem Adjektiv schmückten Freund und Feind oft auch den Zürcher Freisinn. Doch derzeit ist es nur eine Erinnerung an den Glanz vergangener Tage. Trotz immenser Budgets einzelner Kandidat:innen von über 250 000 Franken konnte die FDP knapp den fünften Nationalratssitz halten. Im Ständerat gab sie nach dem ersten Wahlgang Forfait. «Wäre vor einem Jahr gewählt worden, die FDP hätte zu den Siegern gehört», ist Nationalrat Andri Silberschmidt überzeugt. Doch dann folgte das Debakel der CS, das unweigerlich mit dem Zürcher Freisinn verbunden wurde. «Zudem dominierte die SVP mit dem Thema Zuwanderung.»
War es da bezüglich Eigenständigkeit nicht ein Fehler, eine Listenverbindung mit der SVP einzugehen – und auf einen harten Kurs in der Asylpolitik zu setzen? Dass der Entscheid über die Listenverbindung mit einer Stimme Unterschied knapp war, habe die Partei sicher gespalten. «Meine Lehre daraus: Der Parteivorstand muss bei strategischen Fragen sicherstellen, dass mindestens zwei Drittel der Delegierten hinter ihm stehen.» Mehr zur Abgrenzung nach rechts ist dem FDP-Jungstar, der mit dem besten Resultat der Partei gewählt wurde, nicht zu entlocken. «Wir müssen uns für eine gescheite Analyse Zeit nehmen. Klar ist, dass die FDP weiterhin eine eigenständige liberale Politik machen wird.» Was für Silberschmidt dazukommt: Die Freisinnigen müssten Emotionen wecken, menschlicher wirken. «Wir dürfen unsere Kommunikation nicht nur auf den Kopf der Wähler:innen ausrichten – sondern auch auf das Herz.»
Sofern die Partei denn eigenständig entscheiden kann. Die Zürcher Wahl in den Ständerat zeigte nämlich auch ihre dramatische Abhängigkeit von den Wirtschaftsverbänden. Den Entscheid, dass Regine Sauter nicht mehr für den zweiten Wahlgang antritt, fällte das Forum Zürich. In dieser Vereinigung, die sich auf ihrer Website rühmt, ein formloser Zusammenschluss ohne Statuten zu sein, koordinieren die Wirtschaftsverbände des Kantons ihre Politik. Das Forum bestätigt auf Anfrage: Am Montag nach dem ersten Wahlgang trat der leitende Ausschuss zusammen – und sprach sich für die Unterstützung von Gregor Rutz von der SVP aus. Obwohl Sauter selbst Mitglied im Ausschuss ist. Sie zog ihre Kandidatur darauf zurück. Die FDP konnte den Entscheid bloss zur Kenntnis nehmen. Nun kommt es zum Duell GLP gegen SVP, von Tiana Angelina Moser gegen Gregor Rutz.
Die Ohnmacht des Zürcher Freisinns – sie zeigte sich selten so deutlich wie an diesem Montag, als über ihn entschieden wurde.