Berufsvorsorge: Zwanzig Milliarden gehen an die Banken

Nr. 45 –

Ein neues Buch zeigt, wie viel Geld die Finanzindustrie den Versicherten von ihren Pensionsvermögen entzieht. Was sagen bürgerliche Politiker:innen dazu?

Seit über zehn Jahren erhalten Rentner:innen von den Pensionskassen immer weniger Geld ausbezahlt. Und daran wird sich trotz der aktuellen Zinswende auch nicht so schnell etwas ändern. In der bevorstehenden Wintersession will das Parlament nochmals an der Reform der Berufsvorsorge basteln. Und bereits jetzt ist klar: Die bürgerliche Mehrheit wird dafür sorgen, dass das allgemeine Rentenniveau weiter sinkt – trotz geplanter befristeter Ausgleichszahlungen für eine kleine Gruppe, die bereits jetzt geringe Renten zu erwarten hat. Dabei wären die Mittel vorhanden, um das Rentenniveau insgesamt zu halten oder sogar zu erhöhen. Wenn sie denn richtig verwendet würden.

Die Renten wären sicher, wenn das Geld anders angelegt würde.

Das zeigen die beiden Journalisten Danny Schlumpf («SonntagsBlick») und Mario Nottaris (SRF) in ihrem diese Woche erschienenen Buch «Das Rentendebakel. Wie Politik und Finanzindustrie unsere Vorsorge verspielen». Sie zeichnen darin auch nach, wie es zur heutigen Situation gekommen ist: Die ersten Betriebspensionskassen wurden Ende des 19. Jahrhunderts gegründet – lange vor der AHV, die erst 1948 eingeführt wurde. Die betriebliche Absicherung verbreitete sich allerdings nur äusserst langsam. Noch im Zweiten Weltkrieg verwalteten die Pensionskassen ein Kapital, das bloss 0,03 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprach. Ende der sechziger Jahre kletterte dieser Wert auf 30 Prozent, als die zweite Säule 1985 obligatorisch wurde, waren es bereits 55 Prozent.

Heute verwalten die rund 1400 Pensionskasseneinrichtungen die gigantische Summe von über 1,22 Billionen Franken – das entspricht 160 Prozent des BIP. Und die Summe wächst Jahr für Jahr weiter. Allerdings wirft das Kapital angeblich nicht mehr genügend Rendite ab, um gute Renten zu gewährleisten. Der gesetzlich vorgeschriebene Minimalzins beträgt bloss noch ein Prozent. Doch ist dieser tiefe Zinssatz gerechtfertigt?

Mindestens 200 Milliarden mehr

Gemäss den beiden Autoren wären genug Mittel zur Sicherung der Renten vorhanden, wenn die Kosten der Finanzindustrie nur tiefer wären und das Geld anders angelegt würde. Banken und Versicherungen stellen den Pensionskassen für Administration, Marketing, Vermittlung, Immobilienbewirtschaftung und weitere Dienstleistungen jährlich 2 Milliarden Franken in Rechnung. Hinzu kommen Vermögensverwaltungskosten von 5 Milliarden.

Diese Kosten sind öffentlich ausgewiesen. Nicht veröffentlicht werden jedoch sogenannte Transaktionskosten der Vermögensverwaltung, die laut Schätzungen der Autoren 12 Milliarden Franken betragen. Dabei handelt es sich um Kosten, die beim Kauf und Verkauf von Anlagen erhoben werden. Dazu kommt 1 Milliarde Franken für Maklerprovisionen, Beratung und Spesen. An die Finanzindustrie fliesst somit ein Betrag von rund 20 Milliarden Franken. Das ist annähernd so viel wie die 24,5 Milliarden Franken, die die Pensionskassen im Jahr 2020 an Renten ausbezahlt haben. Das ist in etwa so, als würde eine Immobilienverwaltung die Hälfte der gesamten Mieteinnahmen selber einstecken.

Anhand öffentlich zugänglicher Daten haben die beiden Autoren auch Alternativen zum heutigen System durchgerechnet: Die Schweizer Pensionskassengelder werden grossmehrheitlich von Anlagespezialist:innen aktiv verwaltet – Anlagen werden also regelmässig gehandelt. Das ist teuer. Viel günstiger wäre es, die Gelder passiv anzulegen: Das Geld würde in einen Fonds investiert ­– der zum Beispiel die Aktien des Schweizer Swiss Market Index enthält – und dort belassen.

Hätten die Vermögensverwalter:innen diese Strategie verfolgt, lägen laut den Autoren heute konservativ gerechnet 200 Milliarden mehr in den Pensionskassen – mit einem höherem Aktien­anteil sogar 400 Milliarden. Der Ökonom Andreas Reichlin, Partner beim Beratungsunternehmen PPC Metrics, der Stiftungsrät:innen von Vorsorgeeinrichtungen unterstützt, rät seit zwanzig Jahren zu dieser langfristigen Strategie.

Problematisch im Geschäft mit der Berufsvorsorge sind vor allem die grossen Sammelstiftungen, die sich seit den nuller Jahren im Aufstieg befinden; hier ist der Einfluss der Banken und Versicherungen besonders gross. Die Banken stiessen insbesondere nach der Finanzkrise 2008 ins Vorsorgegeschäft vor und veränderten das Geschäftsmodell zu ihren Gunsten; die grossen Versicherungsgesellschaften zogen nach.

An Aufklärung nicht interessiert

Die Intransparenz im Geschäft ist politisch gewollt. Bürgerliche Politiker:innen reden nicht gern über das Geschäftsgebaren, das von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Sie haben sich in der Vergangenheit auch sämtlichen Gesetzesvorschlägen widersetzt, die mehr Licht ins Dunkel bringen würden. Letztes Jahr lehnte die bürgerliche Mehrheit etwa eine Regelung gegen die überrissenen Entschädigungen von Versicherungsbroker:innen ab. Stattdessen fordern sie von den Versicherten weitere Rentenaltererhöhungen sowie Rentensenkungen.

Mit dem Kernbefund des Buchs konfrontiert, antwortet SVP-Ständerat Alex Kuprecht, dass er sich an diesem «Bashing» nicht beteilige. FDP-Präsident Thierry Burkart sieht keinen Handlungsbedarf; er weist darauf hin, dass gemäss den offiziellen Zahlen des Bundes die Kosten pro versicherte Person gar sinken würden. Obwohl der Ständerat kein Problem darin sieht, dass Parlamentarier:innen auch Mandate aus der Finanzindustrie halten, sagt er: «Die Kumulation von Interessen bei einzelnen Sozialpolitikerinnen und -politikern ist allerdings stossend.» Mitte-Partei und GLP schwiegen auf eine entsprechende Anfrage der WOZ.

Gewerkschaften, SP und Grüne wollen seit langem die Verwaltung der gigantischen Pensionsvermögen strenger regulieren und die schwache staatliche Aufsicht stärken. «Es ist frustrierend, gegen die bürgerliche Übermacht sind wir chancenlos», sagt SP-Nationalrätin Barbara Gysi. «Sollten diese neuen Zahlen auch nur annähernd zutreffen, wäre das Ausmass des Rentenklaus ungeheuerlich.» Gysi findet, dass es im Parlament zu viele bürgerliche Versicherungs- und Bankenlobbyisten gebe, die am Geschäft der Pensionskassen zumindest indirekt mitverdienten – «nicht zu vergessen die Parteispenden der Finanzindustrie».

Statt die Vorsorgegelder der Versicherten vor dem Zugriff der Finanzindustrie zu schützen, befeuert die bürgerliche Mehrheit im Parlament vielmehr deren Geschäft. Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber (Grüne) verweist auf eine vom Nationalrat im März überwiesene parlamentarische Initiative. Demnach sollen künftig statt knapp 7000 neu 15 000 Franken in die dritte Säule einbezahlt und entsprechend von den Steuern abgezogen werden können. Leisten könnten sich das bloss Gutverdienende. Es käme zu Steuerausfällen von deutlich über einer halben Milliarde Franken.

«Damit stärken die Bürgerlichen den Einfluss der Banken und der Versicherer und schwächen die staatliche Altersvorsorge», sagt Prelicz-Huber. Immerhin könnten die neusten Berechnungen über die gigantischen Verwaltungskosten Bewegung in die Debatte bringen.

Buchcover von «Das Rentendebakel»

Danny Schlumpf und Mario Nottaris: «Das Rentendebakel. Wie Politik und Finanzindustrie unsere Vorsorge verspielen. Und warum kaum Zeit für Reformen der zweiten Säule bleibt». Rotpunktverlag. Zürich 2022. 224 Seiten. 30 Franken.