Durch den Monat mit Sarah Elena Müller (Teil 4): Wie ist Ihnen Mundart passiert?

Nr. 12 –

Eine Abtreibungsgeschichte, die das Bildungsbürgertum provozierte, und warum Sarah Elena Müller Mundartkolumnistin, aber nie eine echte Flamencogitarristin geworden ist.

Sarah Elena Müller schaut hinter einem grünen Plastikvorhang hervor
«Denen beim ‹Bund› war nicht klar, dass ich mir die Mundarttexte auf Schriftdeutsch ausdenke»: Sarah Elena Müller.

WOZ: Sarah Elena Müller, was kann man auf Mundart nicht schreiben?

Sarah Elena Müller: Ich glaube, man kann sogar über Sex auf Mundart schreiben. Aber das eigene Verhältnis zum Dialekt ist mir doch meistens im Weg. Ich denke selten schweizerdeutsch, ausser ich führe innere Streitgespräche mit Menschen, die auch schweizerdeutsch sprechen würden. Ich denke mehr in Schriftsprache. Oder auf Englisch. Oder gar nicht in Worten.

Trotzdem haben Sie fast vier Jahre lang eine Mundartkolumne für den «Bund» geschrieben. Wie ist Ihnen das passiert?

Der «Bund» hatte das so vorgesehen. Ich habe ausser für die Zeitung nie Mundarttexte geschrieben. Da gabs wohl ein Missverständnis im Zusammenhang mit meiner Band. Die Redaktion hat sich gedacht: Ah, das ist Mundartmusik, und Sarah Elena Müller schreibt die Texte. Denen war nicht klar, dass ich mir die auf Schriftdeutsch ausdenke und meine Bandpartnerin Milena Krstic sie in Dialekt überträgt. Ich habe das angemerkt, aber der Fall war klar: Mundart ist Vorgabe, Themenwahl frei, das ist der Job. Und ich war froh ums Geld.

Ihr Duo Cruise Ship Misery ist also auch ein Übersetzungsprojekt. Wie ist es als Ghostwriterin in einer anderen Sprachvarietät?

Ich empfinde das als sehr beglückend. Es ist ja eine Übersetzung in drei Richtungen: in eine andere Sprache, auf einen anderen Menschen, und schliesslich singt Milena es mir vor – der Text wird zum Lied. Ich mag Übersetzungen in alle Richtungen, das befreit von der identitären Last, die auf einem Text liegen kann. Sobald er übersetzt ist, kann ich ihn nehmen als etwas, das nicht mehr nur meines ist.

Die schweizerdeutschen Texte für die Zeitung kamen schliesslich vollständig von Ihnen. Wie hat sich Ihr Verhältnis zum Dialekt dadurch gewandelt?

Was ich in jener Zeit gemerkt habe: Schweizerdeutsch ist für mich vor allem eine Art Business- oder Verkehrssprache. Ich habe kein romantisches, schon gar kein bewahrendes Verhältnis dazu. Als ich in Arosa auf Mundart las, rauften sich die Mundartexpert:innen ziemlich die Haare wegen der seltsamen standarddeutschen Syntax und der aus diversen Dialekten zusammengestohlenen Vokabeln. Da habe ich von der Mundartpolizei das Wort «Germanismus» gelernt, was mir sonst umgekehrt nur als «Helvetismus» bekannt war.

Mit Mundart ist man rasch «bi de Lüt».

Als ich die Kolumnen vorzulesen begann, zeigte sich das sofort: wie man schnell ganz nah an ein fast beliebiges Deutschschweizer Publikum herankommt. Einmal las ich in einem Kunstmuseum einen Text über Abtreibung vor. Ein Dialog zwischen einem Ungeborenen und seiner Mutter, das Ungeborene beschimpft die Mutter aus dem Uterus heraus, weil sie über eine Abtreibung nachdenkt. Die Mutter befindet, man argumentiere auf verschiedenen Tatsachenebenen, und es sei wohl besser, wenn das Verhältnis aufgelöst werde. Eine kleine Trennungsgeschichte. Da rannten die jungen Kleinfamilien direkt zur Museumsleitung. Als wäre Mundartschreibe ein Garant für Leichtverdauliches. Ich fand es zudem erstaunlich, im Jahr 2022 noch mit dem Thema Abtreibung provozieren zu können, und das in einem bildungsbürgerlichen Kontext.

Aber in der Musik ist eine Entkrampfung im Verhältnis zum Dialekt spürbar, oder?

Ja, komisch, dass immer wieder so Revolutiönchen nötig sind: Als wären wir in der Deutschschweiz verliebt in die Idee, dass unsere Sprache uns künstlerisch wahnsinnig einschränkt, obwohl sie ja als Alltagssprache alles abdeckt.

Sagt das etwas über unseren Alltag aus?

Der Hang zu Gemütlichkeit und Blödelei ist in Mundarttexten verbreitet. Es gibt ein paar Leute, die auf diesem Grat zwischen Alltagsdummheiten und fast universeller Verkehrssprache gute Sachen machen, die nicht ins Gartenhagcabaret kippen. Und da sind popkulturelle Formate, Trap und Rap, die lockerer mit der Sprache umgehen und neue Themen erschliessen, die sich einem romantischen Schweizbild mit Hüsli-Alltag entziehen.

Wo sind Sie aufgewachsen?

Was soll ich sagen? Ostschweiz. Bergig und touristisch, landwirtschaftlich geprägt. Fürs Studium ging ich nach Zürich, aber konnte mir die halb private Kunstschule bald nicht mehr leisten. Ich arbeitete als private Pflege für einen behinderten Mann, um Miete und Studiengebühren bezahlen zu können. Also habe ich mich an mehreren öffentlichen Kunstschulen beworben, und es ist dann Bern geworden.

Hier haben Sie sich der Musik zugewendet?

Da habe ich wieder damit begonnen. Als ich eine Jugendliche war, gab es da, wo ich herkam, die typische Hip-Hop- und Skaterszene. Bekiffte Emojungs machten traurigen Rap auf dem Land. Da war ich als Gitarristin willkommen. Von sechs bis sechzehn habe ich klassische Gitarre gespielt, dann stieg ich auf E-Gitarre um. Da gabs auch noch einen Ausflug in den Flamenco. Und sowieso wollte ich eigentlich Illustratorin werden. Ich bin eine ungeduldige Person, mir wird schnell langweilig.

Die Mundartkolumne von Sarah Elena Müller (32) wurde von der Zusammenlegung der beiden Berner Tageszeitungen 2021 verschluckt. Die gesammelten Texte erschienen im selben Jahr als «Culturestress» im Verlag Der gesunde Menschenversand.