Durch den Monat mit Sarah Elena Müller (Teil 5): Ist der Qualitätsbegriff ein Problem?

Nr. 13 –

Von der grossen Ratlosigkeit über das Frausein, den Schwierigkeiten mit der «Gleichstellung» – und wieso ein feministischer Pool besser ist als das Haifischbecken.

Portraitfoto: Sarah Elena Müller steht am Fluss
«Wir müssen darüber nachdenken, ob Qualität nicht einfach Beschaffenheit meint. Und die ändert sich, wenn neue Perspektiven Zugang zur Bühne erhalten»: Sarah Elena Müller.

WOZ: Sarah Elena Müller, wann sind Sie zuletzt «als Frau» zu einer Veranstaltung eingeladen worden?

Sarah Elena Müller: Das passiert immer wieder, ich erlebe das vielleicht einmal im Monat. Falls ich das Engagement eingehe, versuche ich, in meiner Antwort kurz darauf einzugehen, dass diese Reduktion oder Zuschreibung sehr irritierend sein kann. Ich habe das eigene Frausein nie affirmiert, jetzt werde ich dauernd darauf angesprochen und eben: «als Frau» gebucht. Und ich werde gefragt, wie das denn sei «als Frau» – das sind Überlegungen, die sehr fest aus einer Aussenwelt auf mich einwirken. Das mag funktionieren, wenn man sich körperlich und ideell eins mit dieser Vorstellung von Weiblichkeit fühlen kann, für mich ist das eher … eine sehr komplizierte Kaskade von Symbolik, Politik, Ideologie. Die Idee von Frausein hat mich bisher vor allem ratlos gemacht.

Sie sind Teil des feministischen Autorinnenkollektivs «RAUF». Diskutieren Sie dort solche Missstände?

Klar. Gerade weil wir nur sieben Köpfe zusammenstecken müssen, ist eine gewisse Intimität möglich. Da können wir auch über Probleme und Sorgen diskutieren, die das Schreiben eher kollateral mit sich bringt. Das braucht aber ein Vertrauensverhältnis.

Wer ist «RAUF», und was macht es aus?

Das Kollektiv ist ein Zusammenschluss von sieben Schriftstellerinnen, wobei wir das Wort «Schriftstellerin» vermeiden könnten, oder? Martin Walser zum Beispiel, das ist ein Schriftsteller. Also sagen wir: Autorinnen, weiblich gelesene: Anaïs Meier, Gianna Molinari, Katja Brunner, Michelle Steinbeck, Tabea Steiner, Julia Weber und ich. Solche Zusammenschlüsse nicht cis-männlicher Individuen sind wichtig, um ausserpatriarchale Allianzen zu bilden. Damit wir innerhalb des Betriebs nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Oder um finanzielle Intransparenzen abzubauen und der Haifischbeckenmentalität einen persönlichen Pool entgegenzusetzen, miteinander bekannt zu sein. Das sind feministische Verbündungen.

Machen Sie eher Lobbyarbeit, oder geht es Ihnen um Selbstermächtigung?

Wir tun uns schwer mit einer Definition. Wir bewegen uns zwischen Innen- und Aussenwirkung. Aber der ungewollte Ausschluss ist immer wieder Thema. Deshalb veranstalten wir Stammtische, wo wir uns in grösseren Gruppen austauschen und wo Interessierte unangemeldet dazusitzen können.

Was sind die dringenden Stammtischthemen?

Wir fragen: Was ist gute Literatur? Sie wird von allen Geschlechtern mitgeschrieben. Daraus entstehen neue Fragezeichen, etwa, was heisst das überhaupt: «Gleichstellung»? Wir wollen eben keine weiblichen Schriftsteller werden, wir wollen Autor:innen sein. Wir wollen die jahrhundertealte, männlich dominierte Qualitätskontrolle nicht reproduzieren. Und natürlich geht es um Vernetzung. Ein grusiges Wort, aber: Wenn es um strukturelle Fragen geht, gilt es aufzuholen. Wie viel ist unsere Arbeit wert? Was ist mit den Hierarchien im Literaturbetrieb, die Abhängigkeiten fördern? Die Instanzen Verlag, Lektorat, Agentur, Gedenkstiftungen, wer hat den Durchblick? Es gibt wenige Bezugsorte, wo wir die Unsicherheit in all den Betriebsfragen ansprechen können. Auch dafür soll «RAUF» da sein.

Ist der Qualitätsbegriff aus feministischer Sicht ein Problem?

Ich kann dazu eine Anekdote erzählen, aus der Musikszene zwar, die Probleme sind allerdings ungefähr die gleichen. Da war dieser runde Tisch, irgendwann ging es um eine Frauen- oder Nicht-cis-Männer-Quote für das Programm eines Jazzfestivals. Der darauf angesprochene Programmator zuckte mit den Schultern und meinte: «Aber dann sinkt die Qualität.» Wir müssen darüber nachdenken, ob Qualität nicht einfach Beschaffenheit meint – klar ändert sich die, wenn neue Perspektiven Zugang zur Bühne erhalten. Wir sollten das doch begrüssen. Wir können ausprobieren, anstossen, scheitern, neu formulieren, spielen. Wer Sorge um Qualität vorschiebt, um die eigene Macht zu verschleiern, spielt nicht mit offenen Karten.

Was bedeutet das für Ihre persönliche Identitätspolitik?

Ich habe mir beigebracht, dass auch ein Begriff wie «Frau» eine zeitliche Dimension hat. Je nach Lebensabschnitt sind es andere Organe, Instanzen und Vorstellungen, innere und äussere, die politisch aufgeladen werden können. Binäre Denkmuster zu überwinden, ist tricky innerhalb einer Aufmerksamkeitsökonomie, die uns jedes Gefühl, jeden Schrei nach Freiheit sofort als konsumierbares Statement zurückspielt. Intime, nicht verwertbare Prozesse wirken dagegen fast subversiv. Ich mag es, dass in diesen Fragen fluidere Wege erkundet werden.

Gab es je den Gedanken, Ihre jetzige Genderidentität hinter sich zu lassen und sich etwa als nonbinär neu zu definieren?

Gab es den Gedanken denn bei Ihnen schon mal?

Sarah Elena Müller lebt als Autorin und Musikerin in Bern, wo sich ein Ableger des in Zürich konzentrierten Kollektivs «RAUF» aufdrängen würde. Ihr erster Roman, «Bild ohne Mädchen», ist im Limmat-Verlag erschienen.