Energieabkommen mit der EU: Wie geht es weiter mit dem Strommarkt?

Nr. 4 –

Die Eckpunkte des Stromabkommens mit der EU sind bekannt. Sie klingen gut, entsprechend gross ist die Unterstützung. Doch es gibt auch Kritik.

Arbeiten an einer Hochspannungsleitung in Vezia TI
Dass Schicksal des Abkommens hängt davon ab, wie ausgeprägt die Marktöffnung sein wird: Arbeiten an einer Hochspannungsleitung in Vezia TI. Foto: Gabriele Putzu, Keystone

Ein Wolfsrudel, rennend mit gefletschten Zähnen: Dieses Foto verwendete Martin Schwab, der Präsident des Dachverbands der Schweizer Stromwirtschaft VSE, in seiner Eröffnungsrede am letztwöchigen Stromkongress, um den Zustand seiner Branche zu symbolisieren. Motto des gewichtigen Austauschtreffens: «Deliver!» – Liefern!

Es gibt gute Gründe für die Aufbruchstimmung in der Strombranche: etwa die deutliche Annahme des Stromgesetzes im letzten Juni, das den Grundstein für einen kräftigen (und subventionierten) Ausbau der erneuerbaren Energien gelegt hat. Und zuletzt haben die Schweiz und die EU kurz vor Weihnachten ihre materiellen Verhandlungen abgeschlossen, darunter die über ein eigenständiges Stromabkommen. Dieses sieht die Öffnung des Schweizer Strommarkts vor und im Gegenzug die Teilnahme hiesiger Akteure am ungleich grösseren europäischen Strommarkt.

Ideologisches Nein der SVP

Noch liegen erst die Eckpunkte dieses Abkommens vor. Der Bundesrat hat sie auf einem zweiseitigen «Faktenblatt» publiziert. In dieser komprimierten Form klingt das Stromabkommen nach einem Verhandlungserfolg für die Schweiz: Haushalte und KMUs dürfen weiterhin in der Grundversorgung mit regulierten Preisen und die heimischen Stromversorger und Verteilnetzbetreiber in der öffentlichen Hand bleiben. Ausserdem enthält das Abkommen offenbar «keine Vorgaben zum Wasserzins oder zur Vergabe von Konzessionen für Wasserkraftwerke». Gegen solche Vorgaben hätten sich insbesondere die Bergkantone, in denen die grossen Pumpspeicherkraftwerke stehen, gewehrt. Das Stromabkommen, heisst es weiter, erhöhe die Versorgungssicherheit und reduziere den Bedarf an Stromreserven, weil die Nachbarstaaten auch im Fall einer Energiekrise keine Exportbeschränkungen mehr für die Schweiz erlassen dürften.

Die WOZ hat sämtliche grösseren Parteien sowie mehrere Klima-NGOs und den Schweizerischen Gewerkschaftsbund um eine Einschätzung der vorliegenden Eckpunkte gebeten. Bis auf die SVP erachten alle Parteien das Abkommen in Bezug auf die Versorgungssicherheit als ebenso wichtig wie nützlich. Die SVP lehnt es kategorisch ab, wie «alle Verträge, die eine institutionelle Anbindung an die EU vorsehen», so die Antwort des Generalsekretariats. Im Kontrast dazu steht die GLP, die das Abkommen «vollumfänglich» unterstützt.

FDP und SP wollen angesichts der fehlenden Details noch kein Urteil abgeben, für die Sozialdemokrat:innen werde aber «die Sicherung und stabile Finanzierung der Grundversorgung entscheidend sein». Die Mitte-Partei reagierte auf wiederholte Anfragen nicht.

Die substanziellste Rückmeldung kommt von den Grünen, die das Abkommen grundsätzlich unterstützen, aber ähnlich wie die SP «weiterhin einen Zugang zu einer attraktiven öffentlichen Grundversorgung sicherstellen» wollen, wie Nationalrätin Marionna Schlatter sagt. Die Partei bedaure überdies, dass der Bundesrat explizit festgehalten habe, das EU-Umweltrecht nicht zu übernehmen. «Das steht exemplarisch dafür, dass die EU die Schweiz bezüglich Ambitionen im Klima- und Umweltschutz mittlerweile überholt hat und die rechtsbürgerliche Mehrheit im Bundesrat weitere Fortschritte in Sachen Klima- und Umweltschutz verhindern will», so Schlatter.

Knacknuss Liberalisierung

Grundsätzlich positiv sind die Rückmeldungen von WWF, Greenpeace und Klimastreik. «Sommerüberschüsse und Winterlücken nehmen wir ernst, sie entspringen aber auch einer rein nationalen Stromversorgungssicht», sagt Patrick Hofstetter vom WWF. Mit dem EU-Stromabkommen biete sich die Chance, die Resilienz der europäischen Stromversorgung zu erhöhen, weil man eben zusammenspanne. Es ist aber auch Skepsis zu vernehmen, Nathan Solothurnmann von Greenpeace sagt: «Wenn private Stromkund:innen anfangen, ihren Stromanbieter jährlich zu wechseln, so wie bei den Krankenkassen, und viele gleichzeitig von A nach B wechseln, kann das dazu führen, dass A wegen Stromüberschuss seinen Strom zu billig am Spotmarkt verkaufen und B zusätzlichen Strom teuer zukaufen muss.» Das führe unter dem Strich für beide Anbieter zu Verlusten. Auch Leonie Lalive vom Klimastreik sieht die Liberalisierung und die zunehmende Konkurrenz im Markt skeptisch und befürchtet Preisschwankungen.

Es zeigt sich deutlich, dass das weitere Schicksal des Stromabkommens davon abhängt, wie ausgeprägt die Marktöffnung sein wird. Besonders kritisch sieht das Reto Wyss vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund. «Im Stromgesetz gilt für die Grundversorgung ein Modell mit regulierten Preisen, das vor plötzlichen starken Preissprüngen schützt», sagt Wyss. Das widerspreche diametral dem aktuellen EU-Modell, das gerade keine Preisregulierung wolle. Wyss sieht zudem die Gefahr, dass mit der künftigen Wahlfreiheit der Endkund:innen insbesondere für die kleineren Elektrizitätsunternehmen die bisherige Planungssicherheit verschwinde.

Das heutige Schweizer Versorgungsmodell, das von rund 600 Stromanbieter:innen in fast ausschliesslich öffentlicher Hand gewährleistet wird, sei kaum zu halten. «Es werden sehr viele, gerade kleinere Unternehmen aufgeben müssen», sagt Wyss. «Das ist eine klare Schwächung des Service public.»

Der genaue Wortlaut des Abkommens soll im Frühling vorliegen.