Sarajevo: Untergegangene Stadt

An vielen Orten herrscht reger Baubetrieb, trotzdem werden Eigeninitiative und das Entstehen einer Mittelschicht behindert. Und die alte Politgarde tritt ab.

Ein jugoslawisches Hotel ist noch immer eine Trink- und Esshalle mit angeschlossener Schlafmöglichkeit. Daran hat sich nichts geändert. «Flaschismus ist besser als Faschismus», kommentiert Sinan Gudzevic, mein Übersetzer aus Zagreb, ungerührt. Das Fenster meines ersten Zimmers ist mit Brettern vernagelt und nicht zu öffnen. Im zweiten dröhnen mich morgens um halb acht die Presslufthämmer aus dem Bett.

Es wird gebaut wie an vielen Orten in Sarajevo – meistens mit Unterstützung der Europäischen Union, die im Stadtbild vielfach präsent ist. Und es muss merkwürdig sein, hatte ich schon bei der Ankunft am Flughafen gedacht, auf einmal in verschiedenen Ländern zu leben, die doch, nimmt man Slowenien einmal aus, noch immer aussehen wie ein einziges. Und sich wohl auch so anfühlen. Mein Übersetzer Sinan begrüsst jedenfalls bereits am Flughafen Leute, und das zieht sich hinein in die Stadt, und kurz vor der Abreise trifft er in der Schalterhalle noch immer Bekannte, einen Maler mit seinem Sohn, zwei Frauen, ein paar Journalisten.

Konvertible Mark für den Schleier

Auch die Kriegsversehrten ohne Beine, mit einem Arm und einem leeren Ärmel waren mir schon in Kroatien aufgefallen. Ein alter Mann fährt in einem Rollstuhl rückwärts durch eine Fussgängerzone der Innenstadt, indem er sich mit den Füssen abstösst. Die psychisch Versehrten sind weniger leicht zu orten. Überraschend dagegen sind die vielen, zumeist jungen Frauen, die ein Kopftuch und dazu meist lange Röcke oder Mäntel tragen. Nicht der Rede wert, höchstens ein Prozent der Bevölkerung, meint Sinan. Im Strassenbild der Innenstadt allerdings scheinen sie mehr als dieses eine Prozent auszumachen. Es heisst, sie werden dafür bezahlt, sagt ein befreundeter Kollege, der vor drei Jahren aus Berlin zurückgekehrt ist. Zweihundert Mark – die Landeswährung ist die Konvertible Mark (KM), und die neuen Münzen sehen beinahe aus wie Euros – sind ein Argument, wenn man sonst kein Einkommen hat. Bei einer offiziellen Arbeitslosigkeit von vierzig Prozent überrascht mich diese Hypothese schon weit weniger.

Boomende Moscheen

Neben den EU-Projekten, den Restaurants für AusländerInnen, den Fastfood-Läden und kleinen Kaffeestuben sind die zahlreichen Moscheen das Einzige, was wirklich zu boomen scheint. Sie sind ausnahmslos tadellos wiederhergestellt und sauber, verkaufen islamische Literatur und Devotionalien und erfreuen sich sichtbaren Zulaufs. Und sie sind, wie die Gazi-Husref-Beg-Moschee im Basarviertel, wirklich schön mit ihren ummauerten, mit Bäumen bepflanzten Innenhöfen und Brunnen und befördern, stelle ich mir vor, ein Heimatgefühl wie die ganze osmanisch geprägte, von Bergen umschlossene Altstadt in diesem Oktoberlicht von balkanischer Melancholie, das an Istanbul oder Sofia erinnert.

Ein besonders schönes Exemplar aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert möchte ich ausserhalb der Gebetszeiten jenseits des Flusses Miljacka besuchen. Ich bin, abgesehen von ein paar Handwerkern, alleine im Vorhof, trage meinen Wunsch aber vorsichtshalber einem Mann vor, den ich, weil er einen aufgeschlagenen Koran oder sonst ein frommes Buch in der Hand trägt, für einen Geistlichen halte. Er mustert mich misstrauisch und erlaubt mir schliesslich nur einen kurzen Blick durch die Eingangstür ins Innere. Und die Schuhe möge ich gefälligst nicht auf, sondern neben den Teppichen auf dem Steinboden ausziehen. Ich begreife, dass ich an einen Gläubigen geraten bin, der einem zu Recht vermuteten kunsthistorischen Blick mit äusserster Skepsis begegnet.

Der anderen Seite dieser orientalischen Renaissance – der Kehrseite vom «Kernland des Islams in Europa», wie der Titel einer Schrift insinuiert, den ich lesen kann – begegnen wir in der Discothek unterhalb unseres Hotels, das mit Blick auf die nach wie vor nicht instand gesetzte Nationalbibliothek am Hang klebt. Hier tanzen nachts um halb zwei überall zwischen den voll besetzten Stuhlreihen zu ohrenbetäubender Musik die jungen Schönen in knappster textiler Ausstattung, das Haar mit den Händen hochschürzend wie die Girls in Fashionclips und im MTV, etwas zwischen orientalischem Ethnorock und Bauchtanz. Die Männer mit ihren Kurzfrisuren und Ohrringen starren in ihre Gläser.

Dem bosnischen Dichter Izet Sarajlic, der während des gesamten Kriegs in Sarajevo ausgeharrt und 1994 den Anstoss dazu gegeben hatte, dass die Kulturschaffenden in der Schweiz die «Kulturbrücke Schweiz–Sarajevo» auf die Beine stellten, war im Jahr 2001 die Ehrenbürgerwürde der süditalienischen Stadt Salerno verliehen worden. Bevor er sie indessen entgegennehmen konnte, starb er im Mai 2001 – Anlass für die Casa di Poesia, das Haus der Poesie in Salerno, in diesem Oktober in Sarajevo ein internationales Dichtertreffen zu veranstalten.

Italien und Balkan improvisieren

Zur Eröffnung kamen der Bürgermeister von Sarajevo und der italienische Botschafter, und das Theater der Jugend in der österreichisch-ungarischen Innenstadt war an allen drei Abenden bestens gefüllt – erstaunlich, wenn man bedenkt, dass das Programmheft mit Ablauf und Uhrzeiten, das mir bei der Ankunft dann doch noch überreicht wurde, das Papier nicht wert war, auf dem es gedruckt wurde, und erstaunlich selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass aus Triest und Udine, aus der Toskana und Salerno BesucherInnen mit grossen Bussen und per Flugzeug eigens angereist waren. Das Programm vermerkte mich für den letzten Abend. Stattdessen eröffnete ich, weil ich, wie es hiess, unter den anwesenden Autoren Izets ältester Freund sei, das Festival mit meiner Lesung. Beim Improvisieren reichten sich italienische und balkanische Mentalität die Hand. Und irgendwann vor Mitternacht wurde jedes Mal ein reichhaltiges Buffet aufgefahren.

Dem Grossteil der einheimischen Schriftsteller geht es nicht gut – oder unterschiedlich schlecht. Die einen werden ausgegrenzt, weil sie im Krieg das Land verlassen haben und als «Verräter» gelten. Andere sind nicht auf Dauer zurückgekehrt, mit einem Bein anderswo geblieben. Wieder andere haben den Krieg als Soldaten mitgemacht und ihn vielleicht in der Literatur, aber nicht im Leben überwunden. Und dann gibt es noch jene, die sich, wie der hervorragende Lyriker und Drehbuchautor Abdullah Sidran, den Regierenden und ihrer Ideologie opportunistisch andienen.

Wie er denn die Situation in Bosnien-Herzegowina und in Sarajevo einschätze, wie denn die Perspektiven für die Menschen aussähen, möchte ich vom Vertreter der Schweizer Botschaft wissen, der uns, da er, dem Programm vertrauend, meine Lesung verpasst hat, zum Mittagessen einlädt. Der junge Mann zögert nicht lange. «Lage und Perspektiven sind schlecht», sagt er. «Die Fabrikationsanlagen zerstört, Investoren nicht in Sicht, die Steuern, zahlt man sie denn, sehr hoch, der Staat respektive die hier regierende Partei der demokratischen Aktion SDA von Alia Izetbegovic kassieren selbst noch bei den horrenden Telefongebühren mit. Das behindert Eigeninitiative und die Entstehung eines neuen Mittelstands.

Am Tropf der internationalen Hilfe

Der SDA geht es darum, die Region um Sarajevo, das bosnische Kernland, unter ihrer Kontrolle zu halten. In Banja Luka sitzen die Serben und verhalten sich genau gleich, in Mostar weigern sich KroatInnen und BosnierInnen zu kooperieren. Nicht einmal in den jeweils anderen Teil der Stadt gehen sie über die wieder erstellte Brücke. Das Land hängt am Tropf der internationalen Organisationen und der Staatengemeinschaft. Die Schweiz ist aus Eigeninteresse bei der Hilfe zur Existenzgründung, bei der Hilfe zur wirtschaftlichen Selbsthilfe aktiv. Rund sechzig Prozent der bosnischen Kriegsflüchtlinge in der Schweiz sind nach Bosnien zurückgekehrt. Aber ausser im kulturellen Bereich passiert nicht wirklich viel. Die Staatengemeinschaft hat die ehemalige jugoslawische Republik erhalten wollen, das Land wird wohl noch eine Weile ein Protektorat der EU bleiben, ohne dass die Leute wirklich eine langfristige Perspektive haben.»

Der jüdische Friedhof liegt verlassen und wüst am Hang unterhalb eines Höhenzugs am Rande der Innenstadt, nicht weit von dem ehemals jüdischen Stadtquartier Bjelave. Er ist verwildert, viele Grabsteine mit ihren deutschen, serbokroatischen und hebräischen Inschriften sind umgestürzt. Nur ein einsamer Wärter vor dem Eisentor sagt etwas zu mir, was ich nicht verstehe. Die Friedhofssynagoge wird restauriert. Doch für wen? Die jüdische Gemeinde hat Sarajevo 1992, zu Beginn des Kriegs, verlassen. Auch diesen Exodus hat Dzevad Karahasan in seinem Buch «Tagebuch der Aussiedlung» beschrieben (Wieser Verlag, Klagenfurt 1993, Fr. 26.90). Den BewohnerInnen von Sarajevo, schreibt er, gehe es fortan wohl wie den Jüdinnen und Juden, die einander versprechen: «Nächstes Jahr in Jerusalem». Auch sie müssten zukünftig mit der Formel «Nächstes Jahr in Sarajevo» eine Utopie beschwören, eine untergegangene Stadt, die in den Raum des Idealen, «die tiefste Innerlichkeit der Realität», den Traum entschwunden sei.

Am letzten Tag unseres Aufenthalts stirbt Alia Izetbegovic, der frühere Präsident von Bosnien und Herzegowina, in einer Klinik in Sarajevo. Haben Sie schon gehört, fragt mich der Taxifahrer. Fernsehen und Radio senden Trauermusik. Ansonsten scheint die Nachricht die Leute nicht wirklich zu berühren.
Jochen Kelter war Sekretär der Gruppe Olten, präsidierte die Föderation Europäischer Schriftstellerverbände und ist Präsident von «Pro Litteris».