1. August: Alpenland mit Weitsicht

Es ist wieder Nationalfeiertag, und auch in diesem Jahr lernen wir dabei viel über die Schweiz. Ungefragt, von höchster Stelle.

Aus der Rede von Verteidigungsministerin Viola Amherd in Luzern erfahren wir überraschenderweise, dass ein «bewährter Charakterzug» dieses Alpenlandes die «Weitsicht» sei. Zur nationalen DNA gehöre neben der Neutralität – weniger überraschend von der Armeechefin – die «Sicherheit», die «nicht einfach nur aus Truppen und Waffen» bestehe, sondern «auch ein Gefühl» sei. Natürlich, sicher fühlen dürfen sich hierzulande alle, denen die Polizei jederzeit als Freund und Helferin begegnet. Sicher fühlen dürfen sich auch Polizeibeamt:innen, die zwischendurch in die samtenen Mühlen der Justiz geraten. Überhaupt darf sich sicher fühlen, wer mit dem Lauf der Dinge ganz zufrieden ist. Wer nichts zu verbergen und folglich auch nichts zu befürchten hat: kein Antiterrorgesetz und auch keine Datenlecks bei den Sicherheitsbehörden.

Was wir von der Verteidigungsministerin weiter erfahren: dass ein «Nehmen ohne Geben» der Schweiz fremd sei. Womit sie wahrscheinlich meint, dass die Schweiz niemals das Steuersubstrat der Welt nehmen würde, ohne es dann einigen wenigen Kantonen zu geben. Selbstlos und umsichtig reichen es diese an ihre Konzerne weiter – und freilich auch an deren CEOs und Kadermitarbeiter:innen, denn, wie Aussenminister Ignazio Cassis bei seiner Ansprache oben auf dem Gotthard festhält: «Unser Land stellt die Menschen in den Mittelpunkt der Politik.»

Glaubt man den Ansprachen des Bundesrats, herrscht hierzulande ohnehin ein einziges grosses Miteinander. Mal abgesehen von jenem grossen Teil der Bevölkerung, der zwar Steuern zahlen, aber weder wählen noch abstimmen darf. Zum grossen Miteinander gehört ebenso, dass auch Minderheiten Gehör finden – zum Beispiel dann, wenn sie Abstimmungsmehrheiten per Ständemehr kippen dürfen. Die Langsamkeit der Schweiz bedeute auch «Weisheit», lässt Cassis seine Mitbürger:innen wissen.

Auf dem Erreichten dürften wir uns aber nicht ausruhen, mahnt Cassis auch, denn nichts sei «so beständig wie der Wandel», und er landet damit direkt im Swissminiatur in Melide bei Kollege Albert Rösti: «Klar, wir sind tüchtig, fleissig; wir arbeiten mehr als andere», erzählt der Umweltminister, aber andere seien eben auch fleissig und innovativ. Also nehmen wir unsere patriotische Aufgabe wahr, rennen wir weiter im Hamsterrad, während Mieten und Krankenkassenprämien in die Höhe schiessen, ganz anders als unsere Löhne. Im globalen Wettbewerb muss der Wohlstand der Beutegemeinschaft Schweiz auch mal auf eigene Kosten verteidigt werden.